Ort des Sehens

...vielmehr interessiert mich, wie eine Kunst-Institution, in diesem Fall eine junge Galerie wie Kai Dikhas in Berlin, ihre Position in den nächsten Jahren festigen kann und möchte. Mit welcher Wahrnehmung möchte sich dieser Ort des Sehens im Rahmen des lokalen, nationalen und internationalen Kunstgeschehens etablieren?

Ich werde hier nicht über die sogenannten Roma-Künstler_innen und ihre Werke, auch nicht über die sogenannte Roma-Kunst oder ihre Rezeption in der europäischen Kunstszene etc. schreiben, wie man es von einem Text an dieser Stelle erwarten könnte. Vielmehr interessiert mich, wie eine Kunst-Institution, in diesem Fall eine junge Galerie wie Kai Dikhas in Berlin, ihre Position in den nächsten Jahren festigen kann und möchte. Mit welcher Wahrnehmung möchte sich dieser Ort des Sehens (1) im Rahmen des lokalen, nationalen und internationalen Kunstgeschehens etablieren?

1. Isolierte Orte. Klassische Galerien und andere Galerietypen

Gehen wir der Orientierung halber kurz der Frage nach, welche Galerietypen neben den klassischen Galerien existieren. Als Grundlage hierfür kann die Dokumentation des Projekts GalerieEinsichten von Anna Flach (2011) dienen,(2) in der die „Rolle von Reputation und Expertenmeinungen in der Galerielandschaft Innerschweiz“ im Jahr 2011 untersucht wird. Es scheint selbstverständlich zu sein, was in einer Galerie so geschieht: Kunstwerke werden dort verkauft, Künstlerinnen und Künstler werden präsentiert, Kataloge werden publiziert. Die Galerie ist ein Ort für Kunstfreund_innen und neugierige Passant_innen.

Aber hinter den Kulissen steckt noch mehr: der Kunstmarkt und die dazugehörigen Wirtschaftsmechanismen, außerdem Zielsetzung und künstlerische Ausrichtung der Galerie. So entstehen auch die unterschiedlichen Galerietypen. Anhand der Analyse „Galerielandschaft Innerschweiz“, bei der alle namhaften Galerien der sechs zentralschweizerischen Kantone erfasst und kategorisiert wurden, konnten vier Galerietypen ausgemacht werden: Die erstgenannte ist die bereits beschriebene klassische Galerie. Die nächsten zwei Galerietypen sind die Off-Space-Galerie und die Produzentengalerie, beide mit kommerziellem Fokus. Die vierte Kategorie umfasst die Mischform Galerien: „[...] [S]ie zählen daher nicht mehr zu den eigentlich Galerien dazu. Beispiele sind Verlage mit Ausstellungsraum, nur Ausstellungsräume, Kunst- und Kulturhäuser, Museen, Sammlungen, Auktionshäuser oder Messen.“ (Flach 2011: 2f.)

Der Flughafen: der Passagier im Transit

Der Flughafen ist ein Ort fürs Ankommen und Weiterreisen. Der Passagier weiß genau, wo er hingelangen möchte. In gewisser Hinsicht ist es ein isolierter Ort, denn es geschieht nur sehr selten, dass sich ein Passagier dort verirrt. Aber gerade die negative Erfahrung, sich zu verirren, löst einen Prozess der Selbsterkenntnis aus, der notwendig ist, um Dinge anders zu betrachten als gewohnt. Und wenn der Passagier im Transit sitzt und auf die Maschine wartet, kommt die „besondere Zeit“ zum Nachdenken. Worüber? Ob man sich nicht zufällig verirrt hat!

2. Öffentliche Haltestelle. Galeriebesucher_innen der Zukunft

Am Schluss ihrer Aufzählung von Galerietypen führt Flach die „Mischform-Galerie“ (ebd.: 3) auf. In diese Kategorie gehört auch Kai Dikhas. Die Autorin berichtet über eine Verlags-Galerie in der Zentralschweiz: „Ausstellungen finden im Zusammenhang mit Publikationen statt und stellen eine Qualitätssicherung, sowie einen Mehrwert dar. [...] Ihr Überleben im Kunstmarkt wird durch die Qualität ihrer Arbeit gekennzeichnet. [...] Allerdings kann sie von den Verkäufen alleine nicht überleben. Sie ist zudem auf die Unterstützung von öffentlichen und privaten Geldern angewiesen.“ (ebd.) Aber neben den wirtschaftlichen Aspekten gibt es auch Alternativen, die die Öffentlichkeit einbeziehen und eine unverzichtbare Rolle des Vermittlers zwischen Galerie und Publikum sowie den Bildungs- und Kultureinrichtungen einnehmen. Die Rede ist vom Gallery Education Program, einer „in Deutschland kaum praktizierten, an Ausstellungsorte für zeitgenössische Kunst angebundenen Form theoretischer und praktischer Kunstvermittlung“ (Mörsch 2012b). Die Untersuchungen von Carmen Mörsch führen konkrete Beispiele vor Augen, wie die „traditionsreiche Arbeit der Whitechapel Gallery London“ (ebd.), Projekte der Chisenhale Gallery und des institute of international visual arts (InivA) in London etc. Dabei geht sie darauf ein, dass „die besprochenen Orte eine breit angelegte Vermittlungsarbeit als Erfüllung ihres öffentlichen Auftrags begreifen. Sie arbeiten intensiv untereinander vernetzt und mit lokalen Einrichtungen wie Schulen, Vereinen, Kultur-, Alten- und Jugendzentren zusammen, um möglichst viele Leute mit spezifischen Angeboten in die Auseinandersetzung über zeitgenössische Kunst miteinzubeziehen“ (Mörsch 2002). Mit einem vergleichbaren Ansatz ist es der Galerie Kai Dikhas möglich, ihre wichtigste Aufgabe zu erfüllen: die kulturelle und künstlerische Vermittlung der sogenannten Roma-Kunst und -Kultur in der Öffentlichkeit durch „dekonstruktive und transformative Kunstvermittlung“.(3) So würden Galeriebesucher_innen der Zukunft heranwachsen, die vor dem Hintergrund ihres eigenen Habitus die Ausstellungen der Galerie wahrnehmen würden.

Der Passagier im Café

Musik, Stadtgeräusche und viele Menschen überall. Das Café bietet jede Menge Aufregung und Genuss. Der Passagier liest die Lokalzeitung, um mehr zu erfahren von dem unbekannten Land, trotzdem lauscht er den anderen – was sprechen sie, worüber geht die Diskussion nebenbei? Es ist ein komisches Gefühl, wenn man die Sprache nicht gut versteht, beängstigend, dass man etwas missverstehen kann. In dieser Situation braucht man Hilfe und Unterstützung von jemandem, um die Dinge genau zu verstehen.

Galerie Kai Dikhas Berlin und das Studio Museum in Harlem

In diesem Zusammenhang drängt sich ein Blick auf das Studio Museum in Harlem auf, sozusagen der große Bruder und mit Sicherheit ein Vorbild für die Galerie Kai Dikhas. Das Museum bezieht seine Existenzberechtigung aus der bereits 24-jährigen Geschichte ihres Bestehens. Betrachten wir die Philosophien der beiden Institutionen im Vergleich:

„Das Studio Museum in Harlem ist ein lokaler, nationaler und internationaler Knotenpunkt für Künstler mit afrikanischen Wurzeln, wie auch für Kunst, die Inspiration und Einflüsse aus der schwarzen Kultur bezieht. Es ist ein Ort für den dynamischen Austausch von Ideen über Kunst und Gesellschaft.“(4)

„Die Galerie Kai Dikhas zeigt ständig wechselnde Ausstellungen von Roma- und Sinti- Künstler_innen aus der ganzen Welt. Sie ist ein ,Ort des Sehens‘ […]. Sie begründet einen neuen Freiraum, der es Roma-Künstler_innen ermöglicht, ihre Talente und Fähigkeiten zu entfalten und darzustellen. Die Galerie Kai Dikhas trägt zu einer inneren und äußeren Emanzipation der Roma- Kultur bei.“(5) Der Begriff descent wird vom Studio Museum in einer durch den Anthropologen Wolfgang Kraus (1997) wie folgt gefassten Bedeutung verwendet: „Abstammung od. Deszendenz: engl. descent, frz. filiation (descendance eher selten). In seiner allgemeinsten ethnologisch relevanten Bedeutung bezeichnet Deszendenz – das hier mit dem englischen descent gleichgesetzt wird – den kulturell anerkannten genealogischen Zusammenhang zwischen einer Person und irgendeinem ihrer Vorfahren, gleich welchen Geschlechts.“

Im Kontext der Galerie Kai Dikhas wird das Wort Roma entsprechend der populärwissenschaftlichen Definition wie auch im Sinne der Selbstbezeichnung verstanden. „Mit der Wahl des Terminus’ ,Rom‘ als offizielle Selbstbezeichnung sollten alte Vorurteile überwunden und ein neues Selbstbewusstsein errungen werden.“ (6) Ich würde Kulturanthropolog_innen und Ethnolog_innen gerne die Frage stellen, welche Aspekte in unserem konkreten Kontext durch das Wort descent oder „Deszendenz“ eröffnet werden können. Welche zusätzliche Bedeutung erhalten Wörter wie „Herkunft“ oder „Hintergrund“ hier? Auch eine Überlegung mit einer Kombination der Begriffe wäre spannend: „Künstler_innen mit Roma- und Sinti-Deszendenz“, eine „Sinnbildung“, die sogar die indischen Anfänge integrieren könnte. Diese Überlegung sei als Anregung in den Raum gestellt. Als ich über das Studio Museum in Harlem forschte, hat mich ein weiterer Begriff fasziniert: „katalytisch“. Vor allem wegen seiner katalytischen Rolle in der Förderung der Werke von Künstler_innen mit afrikanischer Deszendenz wurde das Museum anerkannt. Was bedeutet dies in der Praxis? In erster Linie bezieht es sich auf die Aktivitäten des Museums wie zum Beispiel Artist-in-Residence-Programme sowie eine breite Palette von Projekten für die Öffentlichkeit und in der kulturellen Bildung – Aktivitäten, die langfristig auch die Galerie Kai Dikhas entfalten mag. Überdies umfasst der Begriff diejenige Philosophie, die von der Berliner Galerie bereits formuliert wurde, nämlich ihr Bestreben, „zu einer inneren und äußeren Emanzipation der Roma-Kultur“ (7) beizutragen. Institutionen wie die Galerie Kai Dikhas und das Studio Museum in Harlem brauchen die Kunst und unsere Gesellschaft als „Katalysatoren“.

Der Passagier in der Galerie

Der Passagier steht in der Galerie vor einer Fotografie, wo ein „junger Roma“ zu sehen ist, der sich in der Großstadt verirrt hat. Das Foto würde ihm nichts mehr als „routinemäßiges Mitleid“ bedeuten, wenn er vorher im Café nicht das gleiche Erlebnis gehabt hätte. Aber so kann der Passagier sich in der Galerie auf dem Foto wieder finden und es aus eigener Erfahrung betrachten.

Die Galerie ist ein Ort fürs Ankommen und Weiterreisen. Der Passagier weiß genau, wo er hingelangen möchte. In gewisser Hinsicht ist es ein isolierter Ort, denn es geschieht nur sehr selten, dass sich ein Passagier dort verirrt. Aber gerade die negative Erfahrung, sich zu verirren, löst einen Prozess der Selbsterkenntnis aus, der notwendig ist, um Dinge anders zu betrachten als gewohnt.

Fußnoten

(1) Die Übersetzung des Galerienamens Kai Dikhas aus dem Romanes bedeutet „Ort des Sehens“.

(2) Klassische Galerien „[...] sind durch ihre kommerzielle Ausrichtung, sowie durch einen Berufsgaleristen bzw. Angestellten gekennzeichnet. Die Ausrichtung von klassischen Galerien reicht von regional, über national, bis hin zu einem internationalen Niveau. Sie zählen daher zu den Kunsthändlern.“ (Flach 2011: 2)

(3) „Kunstvermittlung hat die Aufgabe, die Funktionen des Museums/der Ausstellungsinstitution zu erweitern und die Institution als Akteur gesellschaftlicher Mitgestaltung (auch politisch) zu positionieren. Kunst und das Museum werden als lernende, in Veränderung befindliche Organisationen begriffen, bei denen es weniger darum geht, Gruppen an sie ,heranzuführen‘, als dass sie selbst an die sie umgebende Welt – z. B. an ihr lokales Umfeld – herangeführt werden müssen und sich fragen müssen, inwieweit die Mitgestaltung unterschiedlichster Öffentlichkeiten langfristig für ihren Erhalt notwendig ist.“ (Mörsch 2012b)

(4) „The Studio Museum in Harlem is the nexus for artists of African descent locally, nationally and internationally and for work that has been inspired and influenced by black culture. It is a site for the dynamic exchange of ideas about art and society.“ www.studiomuseum.org/about/about (9.2.2012).

(5) Vgl. www.kaidikhas.de/de (9.2.2012)

(6) Erster Weltkongress der internationalen Bürgerrechtsbewegung der Roma in London 1971, vgl. romani.uni-graz.at/rombase/cgi-bin/art.cgi?src=data/hist/current/self-inter.de.xml (9.2.2012)

(7) Siehe Galerie Kai Dikhas: www.kaidikhas.de/de (29.1.2012)

Literatur

Flach, Anna (2011): Projekt GalerieEinsichten. PDF (25.1.2012)

Kraus, Wolfgang (1997): „Zum Begriff der Deszendenz. Ein selektiver Überblick“. In: Anthropos 1997 (92), S. 139–163.

Mörsch, Carmen (2002): „Gallery Education in Großbritannien: Beispiele guter Praxis für die Kunstvermittlung in Deutschland“. In: Arbeitsgemeinschaft der deutschen Kunstvereine/NGBK Berlin (Hg.): Kunstvermittlung zwischen Partizipatorischen Kunstprojekten und Interaktiven Kunstaktionen, Tagungsband, Kassel 2002.

Mörsch, Carmen (2012a): Kunstkooperationen. Unter: www.kunstkooperationen.de/vermittlung.htm (3.1.2012).

Mörsch, Carmen (2012b): Vier Funktionen der Vermittlungsarbeit in Museen und Ausstellungsinstitutionen. PDF (5.1.2012).

André Jeno Raatzsch lebt als Bildender Künstler in Berlin und Budapest. Seit 2005 Teilnahme an zahlreichen ungarischen und internationalen Ausstellungen sowie Umsetzung mehrerer künstlerischer und kultureller Projekte. Derzeit im letzten Jahr eines Doktorandenprogramms an der Ungarischen Hochschule für Bildende Künste zum transdisziplinären Forschungsthema The Roma Image Studio (www.raatzsch.com/wp).

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