Künstlerische Freiheit in Europa – Kulturelle Alchemie: Von der Separierung ins Ko-Kreieren

"Lange genug haben wir im Kultursektor den Wettbewerb und die Separierung eingeübt, und es ist höchste Zeit, diese Haltung zu überwinden", fordert Lillian Fellmann, politische Philosophin, Journalistin und Koordinatorin des Netzwerks „Arts Rights Justice Europe" in ihrer Analyse aktueller Problemlagen der Kunstfreiheit in Europa. Nicht nur Verstöße gegen das Recht auf Kunstfreiheit, sondern auch der Anstieg von Hass im Netz, die Abwesenheit von Rechtsstaatlichkeit und der Zusammenhang mit Streichung und Reduktion finanzieller Mitteln sind zu beobachten.

Das Theater Neumarkt in Zürich zeigt eine Performance des Zentrums für Politische Schönheit, die den rechts- populistischen SVP-Politiker Roger Köppel ins Visier nimmt – als Folge wird der Institution das Budget für ein Jahr gekürzt. Mit dieser Maßnahme, so die Erklärung des Kantons, würden „die Aufwendungen der kantonalen Stellen im Zusammenhang mit der umstrittenen Vorstellung im Programm 2016 berücksichtigt,“ von Zensur spricht keiner.

In Großbritannien taucht der britische Künstler Russell Haines unter – seine Ausstellung „Faith“ in der Kathedrale von Gloucester wurde nicht nur Ziel vandalistischer Akte, sondern er selbst von christlichen Gruppen der Blasphemie bezichtigt und mit dem Tod bedroht.

Dem renommierten polnischen Theaterfestival „Dialog Wroclaw“ wird achtzehn Tage vor der Eröffnung plötzlich vom zuständigen Ministerium die Unterstützung gestrichen. Gleichzeitig wird die Vergabe zahlreicher nationaler Auszeichnungen gestoppt. In beiden Fällen werden die betroffenen Produktionen bzw. Institutionen als der Unterstützung durch den Staat „unwürdig“ erklärt.

In Serbien erreicht die öffentliche Diffamierung der Kulturmanagerin Sladana Petrovic Varagic, wesentlich vorangetrieben durch den Bürgermeister der Stadt, in der sie das Požega Cultural Center leitete, einen Höhepunkt, als ihre Gesundheitsakte geleakt wird.

Die Reduktion der finanziellen Mittel für kritische Kunstschaffende ist ein zentraler Mechanismus, um den Sektor fest im Griff zu haben. 

Die Liste der Diffamierungen oder tatsächlichen bzw. zumindest formulierten Einschränkungen von Künstler*innen in ihrer Arbeit könnte noch mit Beispielen aus u.a. Ungarn, Spanien, der Türkei und auch Österreich fortgeführt werden.

Noch sind viele Menschen der Meinung, die Geschehnisse in Europa wären nicht mit jenen in der restlichen Welt vergleichbar, wo so viele Künstler*innen und Kulturarbeiter*innen in der Ausübung ihres Berufes gefoltert oder getötet werden. Aber: Egal mit welchen Mitteln ein Individuum zum Schweigen gebracht wird – wir alle spüren die Abwesenheit seiner Stimme und der Nachhall des Verstummens trifft uns alle.

Ein „Ausnahmezustand“?

Für Europa können wir durchaus behaupten, dass wir im Kunst- und Kultursektor an einem Punkt angelangt sind, an dem es eine Entscheidung zu treffen gilt: Entweder wir hoffen und bangen weiterhin um unser Überleben, oder wir beginnen uns gegen einen Zustand der überlieferten Abhängigkeiten und der wachsenden Unterdrückung aufzulehnen. 

Lange genug haben wir im Kultursektor den Wettbewerb und die Separierung eingeübt, und es ist höchste Zeit, diese Haltung zu überwinden.

Wenn wir die Verstöße gegen das Recht auf Kunstfreiheit, den Anstieg von Hass im Netz, aber auch offine, die mangelhafte Durchsetzung von Grundrechten an manchen Orten und die Abwesenheit von Rechtsstaatlichkeit an anderen Orte beobachten, so zeigt sich gleichzeitig auch (fast) immer ein Zusammenhang mit der Streichung bzw. Reduktion der finanziellen Mittel für Kunstschaffende. Dies, so scheint es, ist der zentrale Mechanismus, mit dem Kunst in Europa systematisch herabgewürdigt wird und der den Sektor fest im Griff hat. Begünstigt wird dies durch einen öffentlichen Diskurs, „der von einer massiv abwertenden Sprache und von Bildern, die homogene Gesellschaften und eine vergangenheitsori- entierte Kultur beschwören, geprägt ist,“ wie es Juliane Bischoff (Kunsthalle Wien) formuliert. 

Einen neuen Weg finden

Lange genug haben wir im Kultursektor den Wettbewerb und die Separierung eingeübt, und es ist höchste Zeit, diese Haltung zu überwinden. Dazu müssen wir uns stets aufs Neue unserer eigenen Werte versichern, Kooperation, Ko-Kreation und Inklusion in unserer täglichen Arbeit bewusst forcieren, jene Strukturen auflösen, die unseren Zusammenhalt schwächen und den Austausch zwischen uns verhindern. Wir haben einander viel zu geben – insbesondere in einem von knappen Ressourcen geprägten Umfeld. Wie ein guter Freund von mir immer sagt: „Wenn kein Geld da ist, dann ist da was anderes.“ 

Und wenn dieser Weg hin zu größerer Unabhängigkeit (von anderen) und stärkerer Wechselseitigkeitsbeziehungen (im Sektor) auch Ängste in uns auslöst, dann ist das gut so – denn so wissen wir, dass wir noch einiges zu tun haben. Während wir unser Recht auf freie Meinungsäußerung, auf freie Produktion und Distribution zurückfordern, lasst uns genau jene Situationen und Orte in den Blick nehmen, die Unsicherheit, Angst und Schmerz auslösen und lasst sie uns gemeinsam zu etwas anderem transformieren – in einem alchemischen Prozess des Vertrauens. Lasst uns immer und immer wieder aus der Isolation in die Ko-Kreation gehen – solange bis wir zufrieden sind, und nicht jemand anders. Denn letzten Endes können wir unsere Regierungen nur dann zur Verantwortung ziehen, wenn wir zuerst unseren eigenen Weg und unsere eigenen Modalitäten der Kooperation finden. 

Vertrauensnetze weben

Für Arts Rights Justice Europe [Netzwerk zur Sichtbarmachung von Menschenrechtsverletzungen in Kunst und Kultur] geht es also wesentlich um das Herstellen von Verbindungen, das langsame, beständige Weben von Netzen, die uns letztlich als stabile Basis für gegenseitige Hilfestellung (kurzfristig und auf lange Sicht) und Unterstützung dienen.

Erreichen möchten wir dies durch die Einbeziehung und Aktivierung von Akteur*innen, die auf lokaler oder nationaler Ebene an Kunstfreiheit interessiert sind und die entsprechenden Rahmenbedingungen kennen. Diese Akteur*innen können dann Anziehungspunkte für alle jene sein, die Unterstützungsbedarf haben und die am Thema arbeiten möchten (z. B. durch die Etablierung von nationalen Hubs zur Kunstfreiheit).


– die Unterstützung dieser nationalen Hubs: Unsere Expertise und unsere Trainingsmethoden helfen dabei, die Aufmerksamkeit für und das Wissen zum Thema zu erweitern, etwa auch durch gemeinsame Falldiskussionen und ein verbessertes Verständnis der rechtlichen Rahmenbedingungen. Derzeit arbeiten wir mit drei nationalen Hubs zusammen: ARJ Austria, ARJ Serbia & ARJ Italy. 

– die Stärkung des internationalen „Mutterschiffs“, das von den Hubs mit Informationen versorgt wird und das im Gegenzug die Hubs und deren Mitglieder miteinander verbindet, um den Austausch von Erfahrungen und Praxiswissen zu fördern und einander on- und offline zu beraten und zu unterstützen. 

Monitoring ist nicht genug

Eine Erhebung von Arts Rights Justice (30 Fälle aus 8 europäischen Ländern) zeigte im Jahr 2017, dass die große Mehrheit der Kunstschaffenden und Kulturmanager*innen in Institutionen, Galerien und Museen ebenso wie der Großteil der zuständigen Beamt*innen sich hilflos fühlt, wenn sie als Personen, als Institutionen oder in ihrer Arbeit verbal oder physisch attackiert werden. Sie sind sich meist ihrer Rechte nicht bewusst und verfügen über kein ausreichendes Wissen über deeskalierende Methoden, wenn es zu bedrohlichen Situationen kommt – in der Folge ziehen sich viele zurück, verfallen in Schweigen und hoffen, dass der Sturm rasch vorüberzieht. Denn auch wenn etliche Kunstschaffende sehr versiert darin sind, via soziale Medien Menschen zu mobilisieren, so scheitern viele dann doch daran, die so mobilisierten Kräfte sinnvoll zu kanalisieren. 

Foto: Pixabay

Während der aktuelle Weltbericht zur UNESCO-Konvention über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen (2018) den Bedarf nach einem verstärkten Monitoring von Veränderungen im Bereich der Kunstfreiheit sowie von Fällen der Verletzung derselben betont, wird in ihm nicht angesprochen, dass auch Ausbildungs- und Trainingsprogramme notwendig wären, um Verletzungen der Kunstfreiheit vorzubeugen. Arts Rights Justice Europe ist davon überzeugt, dass Monitoring-Aktivitäten nur ‚die halbe Miete‘ sind – so wichtig sie sind, so sehr meinen wir auch, dass sie alleine nicht ausreichen. Prävention und Dokumentation müssen Hand-in-Hand gehen. 

Und die guten Nachrichten?

Die Landschaft hat sich in den letzten fünf Jahren radikal verändert. 2013 präsentierte Farida Shaheed, UN-Sonderberichterstatterin für kulturelle Rechte, auf Einladung von Arts Rights Justice Europe ihren Bericht zur Kunstfreiheit vor dem Europäischen Parlament. 2014 adaptierte die Europäische Union ihre Menschenrechtsleitlinien zur freien Meinungsäußerung und inkludierte die Kunstfreiheit.

Zahlreiche Organisationen der ‚ersten Generation‘, wie ICORN, Freemuse und Safemuse, sind gewachsen und/oder haben sich diversifiziert. In den letzten beiden Jahren sind neue Institutionen entstanden, die von großen (manche sagen zu großen) privaten US-amerikanischen und kanadischen Stiftungen unterstützt werden (u.a. die Artist at Risk Connection als Teil von PEN America und der Artist Protection Fund am Institute of International Education). 2018 entstand in Deutschland die Martin Roth-Initiative, die in Form von Residencies Schutzräume für gefährdete Kunst- und Kulturschaffende zur Verfügung stellt, und im Jahr davor startete – ebenfalls in Deutschland – der UNESCO-Lehrstuhl „Cultural Policy for the Arts in Development“ ein Pilotprogramm im Bereich der Kunstfreiheit. 

Und selbstverständlich geschieht noch sehr viel mehr Positives auf der Mikroebene: Einzelne Individuen riskieren täglich Kopf und Kragen – ihre Erfolge werden allerdings bei weitem nicht ausreichend öffentlich gemacht und gewürdigt. Es gibt noch viel zu tun, und das kann nur erfolgreich sein, wenn wir diesen neuen Weg im Licht unserer Triumphe aufbauen, seien sie klein oder groß, und wenn wir das zusammen tun.


Porträt Lillian Fellmann

Lillian Fellmann ist politische Philosophin und Journalistin; sie arbeitet seit 15 Jahren als Kuratorin und Direktorin an der Schni stelle zwischen Kunst und Politik. Sie war Fulbright- Fellow, Programmverantwortliche am Vera
List Center for Art and Politics (New School University, New York), Programmdirektorin von Res Artis, einem globalen Netzwerk für Künstler*innen-Residenzen in Amsterdam, sowie Gründerin der Kunsthalle Luzern. Seit 2015 koordiniert sie Arts Rights Justice Europe, ein Netzwerk für Menschenrechtsverletzungen in Kunst und Kultur. (Foto:
© Lillian Fellmann)



Dieser Kommentar von Lillian Fellmann wurde erstmals publiziert im Jahrbuch 2018 der Österreichischen UNESCO-Kommission (ÖUK), erschienen in Wien 2019. 
Coverfoto und Foto im Text: pixabay  

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