Bombing the system

Nach der Eskalation und blutigen Niederschlagung der Demonstrationen durch den Gouverneur im Oktober 2006, der drei Menschen zum Opfer fielen, machte sich die Wut der BürgerInnen nicht nur in Straßenbarrikaden, Parallelregierungen und Demonstrationen Luft, sondern artikulierte sich auch durch Graffiti und Street Art.

Bomitando el sistema lautet ein Schriftzug über einer gekrümmten Figur, die „das System erbricht“. Dieses Graffiti-Bild aus dem südmexikanischen Bundesstaat Oaxaca ist nur eines von vielen Beispielen des bombing durch Graffiti und Street Art, mit dem „das System“ im Zuge der massiven sozialen Proteste der letzten Jahre besprüht wird.

Seit 2006 tritt die Protestbewegung der LehrerInnen von Oaxaca nicht nur für höhere Löhne ein, sondern fordert auch den Rücktritt des Gouverneurs Ulises Ruíz von der „Dinosaurier“-Partei PRI, der des Wahlbetrugs beschuldigt wird. Ende August – drei Jahre nach den ersten Protesten – haben die Proteste erneut das Leben eines Lehrers gefordert.

Nach der Eskalation und blutigen Niederschlagung der Demonstrationen durch den Gouverneur im Oktober 2006, der drei Menschen zum Opfer fielen, machte sich die Wut der BürgerInnen nicht nur in Straßenbarrikaden, Parallelregierungen und Demonstrationen Luft, sondern artikulierte sich auch durch Graffiti und Street Art. Diese wurden zur Kommunikationsform der unterdrückten und protestierenden Bevölkerung: Aufrufe zum Widerstand, Ankündigungen von Demonstrationen und Protest-Radiosendern verbreiteten sich auf den Mauern der Stadt und veränderten gleichzeitig das Bewusstsein für Graffiti als Form der künstlerischen und politischen Artikulation.

„Santísima virgen de las barrikadas“
Im Zuge der Protest-Graffitis wurde die mexikanische Nationalheilige, die Jungfrau von Guadalupe, auf die Barrikaden erhoben, die sodann mit brennenden Autoreifen geschmückt als „heilige Jungfrau der Barrikaden“ von den Wänden blickte. Kollektive wie Arte Jaguar oder Stencil Zone übersäten die Mauern der Stadt mit Stencils, die sich mit den Forderungen der LehrerInnen solidarisierten.

Neben den Arbeiten der Kollektive füllten Künstlerinnen wie Ana Santos mit ihren Stencils die Mauern der Stadt und bildeten damit ein Gegengewicht zu der traditionell männlich dominierten Szene der graffiteros. Der Widerstand, der von Frauen auf die Mauern gebracht wurde, gesellte sich damit zum Protest der in der Mehrzahl weiblichen Lehrkräfte, die mit ihren Forderungen die Straßen einnahmen, und reiht sich in eine Tradition des politischen Protests von Frauen ein, der in Mexiko von der mexikanischen Revolution (in der Frauen in der Armee Zapatas kämpften) bis zum Widerstand der zapatistischen EZLN reicht.

Poner cuerpo: Körpereinsatz
Auch in Argentinien ging der bedeutendste Widerstand gegen das Militärregime der 1970er Jahre und die grausame Praxis, politische OpponentInnen „verschwinden“ zu lassen, die mehr als 30.000 desaparecidos mit sich brachte, von Frauen aus. Die Madres de la Plaza de Mayo halten noch heute ihre donnerstägliche Demonstration auf dem zentralen Platz in Buenos Aires ab. In Zusammenarbeit mit den Madres entstand im Zuge des III. Marsches des Widerstands 1983 eine Aktion, die politischen Widerstand in Zusammenhang mit künstlerischer Artikulation brachte und Street Art in Argentinien nachhaltig prägen sollte: Im Zuge des siluetazo wurden Silhouetten aus Papier für jede „verschwundene“ Person auf die Wände rund um die Plaza de Mayo gekleistert, standen die Körper der KünstlerInnen und DemonstrantInnen, die ihre Silhouetten „verborgten“, symbolisch für die Abwesenheit der „Verschwundenen“.

Die Raumnahme, die den Madres durch ihre beharrlichen Demonstrationen auf einem der zentralsten Plätze der argentinischen Hauptstadt gelang, setzte sich in der künstlerischen Besetzung des öffentlichen Raums fort. Bis heute stellen die Silhouetten ein Kontinuum im sozialen Imaginären Argentiniens dar. Sie werden zitiert und weiterentwickelt, wie in dem im Jahr 2004 entwickelten Projekt der blancos móviles, der weißen Silhouetten des Street-Art-Kollektivs GAC (Grupo de Arte Callejero), das die blanken Körper in den Kontext von zunehmender Überwachung und Transparenz im öffentlichen Raum stellt.

Neue Widerstandsformen
Gleichzeitig haben sich in Argentinien Formen der Raumnahme entwickelt, die erheblich von anderen Street-Art-Strömungen abweichen. In den so genannten escraches, die GAC in Zusammenarbeit mit dem Street-Art-Kollektiv Etcétera und der Organisation HIJOS (Kinder der „Verschwundenen“) ins Leben rief, wird dem graffiti bombing eine neue Bedeutung zugewiesen: Häuser der Verbrecher der Militärdiktatur werden durch Farbbomben markiert und bilden gemeinsam mit Graffiti, Street Art, Demonstrationen und Performances ein Netz aus sich ergänzenden Widerstandstechniken.

Die Koppelung von politischem Widerstand, Kunst und Raumnahme, die die Madres in Argentinien initiierten, stellen Graffiti und Street Art in Argentinien ebenso wie in Oaxaca in einen unmittelbareren Kontext des Politischen als etwa in Europa und Nordamerika. Wie die Autoreifen auf dem Kleid der Jungfrau von Guadalupe stehen Worte und Bilder auf diesen Mauern in Flammen – und involvieren BetrachterInnen unversehens in ihren Feuerregen.

Anmerkung
Dieser Text erschien zuerst in migrazine – Online-Magazin von Migrantinnen für alle, Ausgabe 2009/1, und ist Teil einer Kooperation zwischen den Kulturrissen und migrazine.at.

Gudrun Rath ist Literaturwissenschafterin; Studium der Romanistik und Germanistik in Wien und Madrid, Graduiertenkolleg „Die Figur des Dritten“ an der Universität Konstanz, forscht und lehrt an den Universitäten Wien und Heidelberg.

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