No More Reality!

Die Ausstellung No More Reality, [Crowd and Performance: demonstration, public spaces, use of body] im Depo-Istanbul ist die vierte Station einer Zusammenarbeit der beiden Kuratorinnen Claire Staebler und Jelena Vesić .

„Of course, the crowd is never neutral... Apparently nameless bodies, anonymous minds and ordinary settings are always producing narratives and images related to the dominant politics of public spaces.“ Almost Real

Die Ausstellung No More Reality, [Crowd and Performance: demonstration, public spaces, use of body] im Depo-Istanbul ist die vierte Station einer Zusammenarbeit der beiden Kuratorinnen Claire Staebler und Jelena Vesić . Nach einer Reihe von Workshops, Aktionen und Diskussionen in Novi Sad 2005 entstand gemeinsam mit dem Belgrader PRELOM Kollektiv ein Buch unter dem Titel „No more Reality“. 2008 fassten sie im De Appel Institute Amsterdam ihre Recherche zu einem shared folder, einem Dokumentationszentrum über Möglichkeiten kollektiven Handelns im öffentlichen Raum, zusammen.

Crowd

Einerseits stützt sich unser kulturelles Unterbewusstes auf unzählige Bilder der (Kunst-)Geschichte, die den in Manifesten evozierten Moment unmittelbar vor der Revolution zeigen, von dem wir glauben, er stelle den Beginn der neuen Ära selbst dar. Diese Bilder vom „aufgehetzten Pöbel“, von Fahnen, Rauch und Barrikaden sind seit Jahrhunderten dieselben. Anderseits denken wir bei „crowd“ an hektische Menschenmassen aus vereinsamten Individuen, deren einziger gemeinsamer Nenner das Überleben-Müssen in der immer größer werdenden Stadt ist. Eine anonymisierte Masse mit vielen Wegen, aber ohne Ziel. Der moderne Traum, sich von dieser Masse als einzigartig abzuheben, hat aber seine Wichtigkeit verloren; Individualität und Originalität gehören zu den wichtigsten Identitätsbausteinen einer durchschnittlichen Großstadtbewohnerin.

Kollektiv/Kunst?

Dem entgegengesetzt haben einige der ausgestellten Arbeiten keine eindeutig identifizierten AutorInnen, sie stellen das Ergebnis kollektiver Prozesse dar. Ein anschauliches Beispiel für die Möglichkeiten und Grenzen von kollektiver Arbeit ist die ukrainische Gruppe R.E.P (Revolutionärer Experimenteller Raum). Diese entstand während der Orangen Revolution 2004 als eine unbestimmte Anzahl von Personen, die ein Störmoment im von parteilichen Zielen geleiteten, gesellschaftlichen Umschwung darstellten. Die zum Anlass der Wahlen 2005 gegründeten R.E.P-Partei hat im Gegensatz zu den anderen Parteien „Kultur“ nicht als Programmpunkt, sondern den einzigen Zweck, Kultur zu sein. R.E.P. bemerkte, dass Kunst, auch zeitgenössische, in der Post-Orangen Ukraine zum reinen ästhetischen Selbstzweck existierte. Es gab keine lokalen KunstkritikerInnen, die den neuen Diskurs mit dem internationalen verknüpfen konnten. Die Botschaften musste sich also ihr Publikum selbst suchen, daher griff die Gruppe zu massenwirksamen Formen wie Transparenten, Plakaten und Flugblättern. Am bekanntesten wurde ihr System von Logos, aus denen kritische site-spezifische Bilder-Texte aus einfachen Symbolen entstehen. Mit dem Auftreten auf bisher 17 internationalen Kunstausstellungen hat sich die Gruppe jedoch verändert: Aus dem vor fünf Jahren entstandenen gesichtslosen Kollektiv sind nun sechs Namen übrig geblieben, die die Energie der post-orangen ukrainischen Kunst zu universell verständlichen Logos gebündelt haben.

Potenzial/Repression

Zwei unterschiedliche Kommentare über Repression liefert Dmitry Vilensky, Teil der russischen Gruppe Chto Delat?, und der Kroate Igor Grubić. In seinem Video Protest March von 2006 zeigt Vilensky ein an Wissen und Potenzial starkes Protestforum gegen den G8 Gipfel in St. Petersburg, das aus „demokratischem“ Wohlwollen zwar erlaubt, aber in ein abgeschlossenes Stadion verlegt wurde. Unter der permanenten Kontrolle der Polizei sprechen die TeilnehmerInnen, die sich nicht von der angekündigten Repression abschrecken ließen, über ihre Frustration. Ihnen ist klar, dass nur ganz radikale Mittel gegen derartigen Ausschluss greifen würden, zu denen sie jetzt, nach intensiver Beobachtung und Registrierung durch die Behörden nicht mehr imstande sind. Ihre Wut bleibt mit ihnen eingesperrt. Grubic´ s Installation East Side Story besteht aus einem Video mit Ausschnitten aus den massiv bedrängten Gay-Prides in Zagreb und Beograd in 2001 bzw. 2002. Von Gewaltausschreitungen begleitet zieht die Menge der Demonstrierenden durch die Straßen. Auf einem zweiten Bildschirm werden die Geschehnisse von vier TänzerInnen in den Straßen von Zagreb reenacted. Zusätzlich zeigen Fotos einige ihrer Gesten eingefroren. So werden aus den TV-Bildern vom aufgebrachten Mob und den ebenso wütenden wie verängstigten DemonstrantInnen Schritt für Schritt die Gesten des Hasses, der Angst, des Muts extrahiert.

Masse/Multitude

Das 60-minütige Video Radical Imagination von Marcelo Exposito ist zugleich Analyse und praktische Handlungsanweisung. Detailliert zeigt es am Beispiel Londons Formen des nicht-organisierten, spontanen Protests wie Reclaim the streets auf, die die in und gegen hierarchische Organisationen geschulte Polizei überfordern. In Interviews und viel Bildmaterial zeigt das Video den Wandel der Protestkultur in vielen europäischen Ländern von einer aggressiven Vorwärtsbewegung zum karnevalesken horizontalen Chaos, das eine permanent voranschreitende Veränderung bedeutet.

Exemplarisch für die Ausstellung sammelt das Video so theoretische wie praktische Herangehensweisen auf dem Weg von der Masse zur Multitude zusammen.

Lisbeth Kovačič ist Bildende Künstlerin und lebt zurzeit in Istanbul.

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