Antimilitarismus und Ökologie unter dem Regenbogen

Ein Interview mit der LGBTI-Gruppe Keskesor in Kurdistan

Im September haben wir uns in Amed/Diyarbakır, der inoffiziellen Hauptstadt Türkei-Kurdistans, mit Aktivist_innen von Keskesor getroffen. Keskesor ist eine offene LGBTI-Gruppe bzw. eine Gruppe, die sich mit Homo- und Transphobie, Militarismus, Rassismus und Feminismus beschäftigt. Mit uns haben sie über LGBTI-Aktivismus in Kurdistan und der Türkei, Antimilitarismus und Wehrdienstverweigerung, Othering und die Gezi-Park-Proteste gesprochen. Auf ihren Wunsch haben wir die Namen unserer Gesprächspartner_innen anonymisiert.

Kulturrisse: Wie definiert ihr euch selbst? Was sind die Bereiche die Keskesor berührt, wer sind die Menschen aus denen Keskesor besteht?

A: Bei Keskesor gibt es sowohl Sozialist_innen und Mitglieder anderer Parteien als auch Anarchist_innen, Feminist_innen oder LGBTIs. Aber auch solche, die sich nicht als LGBTI verstehen. Wir sind Leute, die ein Problem mit dem bestehenden System haben. Unsere Perspektive ist die von LGBTIs und Frauen. Aufgrund verschiedener Unterdrückungsmechanismen können wir auch von verschiedenen Bereichen sozialer Kämpfe sprechen.

B: Wir nehmen mit Keskesor eine systemkritische Haltung ein. Wobei wir uns nicht vorrangig als LGBTI-Organisation verstehen, sondern versuchen, jeden Bereich, in dem Gewalt vorzufinden ist, zu berühren. Dabei fokussieren wir aber auf die in unserer Gesellschaft vorzufindende Homophobie und Transphobie.

D: Gleichzeitig positionieren wir uns auch gegen Krieg. Wir sind Antimilitarist_innen, setzen uns für Umweltschutz ein und interessieren uns sehr für die Probleme von Frauen. So haben wir bisher viel mit Frauenorganisationen zusammengearbeitet und werden das auch in Zukunft tun.

A: Und ich finde wichtig, dass ich als „Schwuchtel“ – auch ohne eine direkte Verbindung zur LGBTI-Bewegung ziehen zu müssen – über z. B. Stadterneuerung sprechen kann, über Ökologie oder Militarismus. Als Person, die hier lebt und die es betrifft. Also natürlich diskutieren wir als Organisation in Kurdistan den Friedensprozess. Und natürlich diskutieren wir auch das Thema Antimilitarismus.

Worin bestehen eure Aktivitäten und welche Art von Allianzen schließt ihr? Mit anderen Worten: Wie wandelt Keskesor diesen ganzheitlichen Anspruch in die Praxis um?

A: Wir veranstalten Filmvorführungen und Workshops zu Themen wie z. B. Homosexualität, Familie, Sexarbeit. Unsere Konferenz zu Wehrdienstverweigerung und Antimilitarismus war sehr bedeutend. Etliche Leute haben geäußert, dass sie zum ersten Mal erlebt haben, dass eine LGBTI-Gruppe sich außerhalb des eigenen Feldes mit einem Thema beschäftigt. Der Hauptgrund, warum wir LGBTI-Themen mit Antimilitarismus und Rassismus gemeinsam diskutieren, ist der in dieser Region stattfindende Krieg. Gleichzeitig halten wir Allianzen für sehr wichtig. So sind wir etwa Teil der Frauensolidarität Amed und beteiligen uns an vielen Veranstaltungen der BDP, der kurdischen Partei des Friedens und der Demokratie.

D: Die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen hat auch den positiven Effekt, dass LGBTI-Anliegen für diese Organisationen sichtbarer werden. Sie verstehen, dass auch wir in dieser Gesellschaft existieren, dass wir politisch agieren und zu Themen in allen möglichen Bereichen etwas zu sagen haben – und dies auch tun. Aus diesem Grund kann es dann auch sein, dass sie sich für LGBTI Anliegen einsetzen. Das ist sehr wichtig für uns.

Roşin Çiçek, ein 18-jähriger Schwuler, wurde 2012 in Diyarbakır von seinem Vater und seinem Onkel ermordet. So wie der Prozess ablief und in den türkischen Medien rezipiert wurde, trat die Produktion der „Anderen“ und die Politik der Viktimisierung deutlich zutage. Wie habt ihr das erlebt? Wie schaut ihr generell auf das Thema Mehrfachdiskriminierung und Othering?

A: Im Zuge des Prozesses wurden wir von vielen Journalist_innen angerufen, die mitleidig meinten: Ihr seid sowohl Kurd_innen als auch homosexuell. Als sei das eigentliche Problem in Kurdistan bei den Kurd_innen zu suchen ... Auch die Ehrenmorde kämen ja von dort her. Passiert es im Westen, ist es ein Mord aus Liebe. Bei Pippa Bacca (1) wiederum wurde ständig hervorgehoben, dass der Mann, der sie vergewaltigt und getötet hat, LKW-Fahrer war. In diesem Fall, wo der Mord in der Westtürkei stattfand, wurde die Tat nicht ethnisiert, sondern ständig auf die Klassenzugehörigkeit des Mörders verwiesen. Unsere Haltung hier ist klar: Wir sind uns der verschiedenen Unterdrückungspraktiken bewusst, dementsprechend gestalten wir unsere Widerstandsstrategien.

Zurück zu Antimilitarismus. B, du bist auch Wehrdienstverweigerin. Wie bist du zu dieser Entscheidung gekommen und wie waren die Reaktionen darauf?

B: Ich kann den Krieg an meinem Körper, der ein weiblicher ist, spüren. Dafür muss ich nicht an die Front gehen und Krieg führen, muss keine Waffe in die Hand nehmen und abdrücken. Was passiert sobald ein Krieg ausbricht? Eine Region wird besetzt und Frauen werden vergewaltigt. Darum habe ich mich zur Wehrdienstverweigerung (2) entschlossen. Wir haben dies in der Zeitung inseriert und im Internet verbreitet. Manche meinten: Veröffentliche doch deine Wehrdienstverweigerung soviel du willst, aber du bist eine Frau und als solche wirst du keine Strafe dafür bekommen. Der Staat wird kein Ermittlungsverfahren gegen dich einleiten, nichts wird er machen.

In der Region findet seit 30 Jahren ein Krieg statt. Bedeutet für euch Antimilitarist_in oder Wehrdienstverweiger_in zu sein auch gleichzeitig gegen den bewaffneten Kampf zu sein?

B: Ich verstehe den bewaffneten Widerstand eines Teiles der kurdischen Bevölkerung als Überlebensstrategie gegen die Assimilierungspolitik der türkischen Regierung und ihre unzähligen Massaker in dieser Region. Für mich schließt es sich nicht aus, den Kampf der PKK zu unterstützen und sich gleichzeitig als Antimilitarist_in zu verstehen. Was die PKK macht, ist aus meiner Sicht bewaffnete Verteidigung. Selbstverteidigung. Dort gibt es auch Frauen und Homosexuelle. Bei den türkischen Streitkräften ist das nicht so.

A: Es gibt antimilitaristische Elemente in der PKK, ebenso wie militaristische. Du kämpfst in der PKK gegen das System, gegen den Staatsterror. Das ist legitime Gegenwehr. Aber das wurde und wird auch von kurdischer Seite sehr viel diskutiert. Genau darum haben wir diese Konferenz gemacht, damit das Thema hier besprochen wird.

Ein anderes Thema: Wie haben sich die Gezi-Park-Proteste ausgewirkt, welche Haltung hat Keskesor dazu eingenommen?

D: Auf Keskesor haben sie sich positiv ausgewirkt. Die Proteste waren das Resultat der in verschiedenen Bereichen produzierten Ungerechtigkeiten der letzten Jahre und haben eine Explosion dargestellt. Was das Ausstrahlen auf die Region hier betrifft ist es so, dass die Leute aufgrund des Friedensprozesses Bedenken hatten: „Sollen wir das unterstützen? Die Republikanische Volkspartei CHP (Oppositionsführer_innen, Anm. E/G) unterstützt die Proteste, warum sollen wir dann?“ (3) Diese Bedenken gab es aufgrund von wechselseitigem Misstrauen. Einerseits sagst du, schön, andererseits funktioniert es nicht, weil du keinen Platz, keine Position findest angesichts der Bewegung, der du dich zugehörig fühlst.

Es wurde darüber gesprochen, dass die kurdische Bewegung mit ihrer Unterstützung für die Gezi-Park-Proteste zu spät dran war. Wie denkt ihr darüber?

A: Einige von uns sind am Morgen des 1. Juni nach Istanbul geflogen, haben dort ihre Portion Tränengas abbekommen und sich an den Kämpfen um den Gezi-Park beteiligt. An dem Tag fand auch eine Solidaritäts-Demo hier in Diyarbakır statt, wo sich zwischen 4.000 und 5.000 Menschen beteiligt haben. Keskesor hat die Gezi-Park-Proteste von Anfang an unterstützt. Ich denke auch nicht, dass die kurdische Bewegung sehr spät dran war mit der Unterstützung, sondern dass sie sich bedächtig verhalten hat. Es wurde zunächst abgewartet und beobachtet, dann sich dementsprechend verhalten. Das geht wohl auf die 30-jährige Erfahrung dieser Organisation zurück. Dem sollte mit Respekt begegnet werden. BDP-Politker_innen sowie die BDP insgesamt haben die Gezi-Proteste unterstützt.

Welche Erwartungen hatten hier Kemalist_innen und andere sozialistische und linke Gruppen an die kurdische Bewegung?

A: Die türkische Linke hatte immer versucht einzuwirken, also Ratschläge gegeben, wie gekämpft werden soll. Genau in diesem Verhalten tritt ein kolonialistischer Blick zutage, und das wurde auch im Zuge der Gezi-Park-Proteste sichtbar. Einerseits wird den Kurd_innen gesagt, wie sie Unterstützung leisten sollen, andererseits gibt es Beschwerden, dass sie nicht unterstützen.

D: Oder sie haben sich erwartet, dass alle immer gemeinsam auf die Straße gehen, damit der Protest möglichst groß ist. Das hatte aber auch den Beigeschmack, ausgenützt oder vereinnahmt zu werden.

A: Auch die KCK (4) hat eine Unterstützungserklärung abgegeben. Zu dieser Zeit gab es ohnehin viele Unterstützungserklärungen, nicht nur aus Diyarbakır. Es ist nicht so, dass die kurdische Bewegung desinteressiert und unsolidarisch war mit den Protesten. Aber wie viele dieser Solidaritätsaktionen waren in den Medien sichtbar?

Aufgrund des Friedensprozesses gab es auch eine Stimmung, dass die Leute einmal zur Ruhe kommen wollen, dass viele sehr erschöpft sind. Ich finde das sehr nachvollziehbar. Das bedeutet nicht, dass Kurd_innen keine Unterstützung geleistet haben. Sie waren Teil der Proteste, und ich finde das sehr wichtig und positiv. Das ist auch etwas Neues für die kurdische Bewegung. Sie hat dort nicht ihre eigenen Interessen vertreten, ihre eigene Politik gemacht. Wäre das der Fall gewesen, hätte sie – wenn auch auf andere Weise – wie die CHP auf sehr hässliche Art Politik gemacht. Das hat sie aber nicht.

Wie bewertet ihr die in ökologischer Hinsicht großen Veränderungen der letzten Jahrzehnte wie etwa Wasserkraftwerke und Staudämme? Welche Verbindungen zieht ihr zu dem hier stattfindenden Krieg? Im Zuge der Assimilierungspolitik des türkischen Staates wurden früher ja Dörfer abgebrannt und Menschen zur Migration gezwungen.

A: Sei es nun der Fluss Munzur (5), Hasankeyf (6) oder andere Wasserkraftwerke: Es handelt sich dabei um unterschiedliche Stadterneuerungspläne und geopolitische Eingriffe. Früher wurde dieser Genozid durch das Abbrennen der Dörfer vollzogen. Es wurden die Menschen sowohl von ihren Wohnorten vertrieben und ermordet als auch die Wege der Guerilla abgeschnitten. Jetzt werden Staudämme gebaut und dadurch Dörfer und die Wege der Guerilla unter Wasser gesetzt. Das alles ist nicht unabhängig von der kurdischen Frage zu denken. Und noch ein wichtiger Punkt: Bei im Westen der Türkei stattfindenden politischen Aktionen zum Thema Umwelt und Ökologie werden die Aktivist_innen von Seiten des Ministerpräsidenten als Umweltschützer_innen bezeichnet. Aber hier nennt dich kein Mensch Umweltschützer_in. Egal was du machst, hier bist du ein_e Terrorist_in.

Links
Keskesor: Web & Facebook

Frauensolidarität Amed: Facebook

Fußnoten

(1) Pippa Bacca ist eine italienische Künstlerin, die 2008 im Westen der Türkei mehrfach vergewaltigt und anschließend ermordet wurde.

(2) In der Türkei besteht für alle männlichen Staatsbürger eine zwölfmonatige Wehrpflicht. Die einzige Alternative dazu ist, 30.000 TRY zu bezahlen und dafür lediglich 21 Tage Wehrdienst leisten zu müssen.

(3) Die CHP war an Massakern, wie dem an der kurdisch-alevitischen Bevölkerung in Dersim 1937/38, maßgeblich beteiligt.

(4) Union der Gemeinschaften Kurdistans zur Umsetzung des 2005 deklarierten „Demokratischen Konföderalismus“ in Kurdistan.

(5) Am Fluss Munzur, der unter anderem durch die kurdisch-alevitische Stadt Dersim/Tuncel fließt, wurde ein Staudamm gebaut.

(6) Hasankeyf ist eine antike Stadtfestung am Tigris, die in wenigen Jahren in einem Stausee untergehen wird.

Ezgi Erol ist Soziologin, studiert konzeptuelle Kunst in Wien, ist ein Teil von Planet10 und in der Jugendarbeit tätig. Simone Gaubinger ist Politologin und in selbstorganisierten queer-feministischen Zusammenhängen und der Erwachsenenbildung tätig.

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