Freie Medien und investigativer Journalismus - Ein Widerspruch?
Investigation heißt aktives Recherchieren, heißt Quellen zu finden, die über bereits vorliegende Texte hinausgehen, sie kritisch auszuwerten und: mit Leuten reden, mit solchen, die von einem Thema unmittelbar betroffen sind und wahrscheinlich auch mit solchen, die gemeinhin als „ExpertInnen“ bezeichnet werden.
Beim Lesen, Hören und Sehen „alternativer“ oder „freier“ Medien, beschleicht mich manchmal Unbehagen. Nein, es liegt nicht an den Themen und den Inhalten – an der Auseinandersetzung mit der Dekonstruktion von Mythen, mit der prekären Situation von X am Beispiel von Y, mit Selbstorganisierungen und Selbstorganisationen ist nichts auszusetzen. Ich lese auch gerne lange Texte mit vielen Fremdwörtern drin. Ich mag kämpferisch kritische Artikel über das neue Proletariat, die Prekarisierten dieser Welt. Aber das Unbehagen breitet sich aus, unweigerlich.
„Warum gibt es in Freien Medien keinen investigativen Journalismus?“
Vor einem guten halben Jahr hat dann mal jemand das angesprochen, was ein Auslöser für dieses Unbehagen sein könnte: „Warum“, fragte Tina Leisch bei einem von ihr mitinitiierten „Mikro Medien Kongress“ anlässlich der Solidaritätsaktionen für die alternative deutsche Wochenzeitung Jungle World, „warum gibt es eigentlich in den Freien Medien keinen investigativen Journalismus mehr?“ – Die Reaktion in der – zugegebenermaßen insgesamt nicht wahnsinnig spritzigen – Diskussionsrunde von ungefähr 30 Leuten war erst mal Unverständnis. Ein bisschen Ratlosigkeit. Und einige Argumente, die mir überwiegend hanebüchen vorkamen, und jedenfalls nicht den Anschein erweckten, als wäre das Bewusstsein für journalistische Formen und Methoden in der Szene sehr ausgeprägt.
Aber jedenfalls schien allen Anwesenden fürs Erste klar zu sein, was das ist, „investigativer Journalismus“. Ich versuche also zu umreißen, was in vorliegendem Text darunter verstanden wird: Investigativer Journalismus setzt voraus, dass jemand seinen / ihren Text nicht nur am Schreibtisch respektive im Schnittraum produziert. Investigation heißt aktives Recherchieren, heißt Quellen zu finden, die über bereits vorliegende Texte hinausgehen, sie kritisch auszuwerten und: mit Leuten reden, mit solchen, die von einem Thema unmittelbar betroffen sind und wahrscheinlich auch mit solchen, die gemeinhin als „ExpertInnen“ bezeichnet werden. Investigativer Journalismus heißt hier nicht, die großen Skandale aufdecken, den mafiosen Strukturen unserer Bundesregierung auf den Grund gehen und von dort eine Lucona hoch tauchen zu wollen.
„In der aktuellen Medienlandschaft braucht es nur politische Analysen!“
„Die Kunst ist, einen Journalismus zu machen, sodass die alltäglichen Verhältnisse als Skandal wahrgenommen werden, und nicht nur die Auswüchse“, meinte Robert Sommer vom Augustin in einem der Gespräche, die meinen kläglichen Versuch darstellen, mich dem vorliegenden Thema selbst „investigativ“ zu nähern. „Warum gibt es eigentlich in den Freien Medien keinen investigativen Journalismus mehr?“, habe ich so verstanden, dass in diesen Medien weniger konkreten Auswirkungen aktueller politischer, sozialer, kultureller Realitäten auf den Grund gegangen wird, sondern überwiegend Texten und Diskursen. In Analysen, die aus Lektüren und Beobachtungen und daraus gewonnenen kritischen Erkenntnissen entstehen. Und dagegen habe ich ganz und gar nichts. Text- und Diskurskritik, politische Analyse ist etwas, das in Zeiten, in denen die Mainstream-Medien Analyse und Kritik kaum mehr beim Namen nennen können, existenziell wichtig ist. Aber welche konkreten Auswirkungen der Neoliberalismus, der Rassismus, die Prekarisierung weiter Teile der Gesellschaft und all der anderen Themen, mit denen wir uns in diesen Medien auseinandersetzen, auf konkrete Menschen, gesellschaftliche Gruppen hat, und wie diese dann in einen größeren Kontext gestellt werden können, ist selten Thema.
„In der aktuellen Medienlandschaft braucht es aber nur politische Analysen“, lautete ein Mikro Medien-Diskussionsbeitrag auf Tinas Frage. Und: „Wir haben unsere ExpertInnen eh in unseren Medien sitzen, oder wir finden sie in unserem unmittelbaren Umfeld. Da erübrigt sich Investigation.“ Aber ist das wirklich alles, was wir brauchen? Woher kommen die Analysen, wenn sie ohne Fakten auskommen müssen, die erst mal recherchiert werden müssten, oder wenn wir uns an den Fakten orientieren müssen, die uns der Mainstream vorsetzt? Liegt das, was wir wissen müssen, um die gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen Machtstrukturen analysieren und kritisieren zu können, tatsächlich alles so einfach zu unserer Verfügung entweder unmittelbar in unserem (Arbeits-) Umfeld oder in den Texten herum? Sollten wir nicht öfter mal hinausgehen „ins Feld“, zu den Leuten da draußen, mit deren Interessen uns auseinander zu setzen wir vorgeben? Ihre Realitäten und ihre Perspektiven abfragen? Ihre konkreten Kollisionen mit mächtigen Apparaten, ihre Verlorenheit in den Strukturen, ihre Widerständigkeit?
„Für aufwendige Recherchen sind keine Ressourcen da!“
Auch das, was freie, alternative Medien veröffentlichen, sind immer noch großteils StellvertreterInnenäußerungen – und Metadiskurse. Einen niederschwelligen Zugang gibt es tatsächlich auch hier in den wenigsten Medien: sowohl als ProduzentIn wie auch als KonsumentIn. Zum Beispiel: Zwar arbeiten MigrantInnen als RedakteurInnen und Produzierende mit, aber es sind (Bildungs-)ElitemigrantInnen. Natürlich schreiben (vor allem!) Menschen, die in prekären wirtschaftlichen (und sozialen) Verhältnissen leben, für alternative, freie Zeitschriften. Aber es sind (Bildungs-)Eliteprekarisierte (und keine Call Center Agents oder Facility Manager oder…). Als Subjekte kommen die, um die es angeblich (auch) geht, kaum bis gar nicht vor. Als AdressatInnen auch nicht. Könnte es unsere Aufgabe sein, die, für die wir uns einzusetzen vorgeben, tatsächlich auch zu Wort kommen zu lassen? In den freien Radios passiert das (Sorry, I did it again!), und beim Augustin. Sonst?
Das steht auch in meinen Notizen von der Mikro Medien Diskussion: „Für aufwendige Recherchen sind keine Ressourcen da in den freien Medien“. Als würden Analysen keine Ressourcen verbrauchen. Nur ist es allemal bequemer, am Schreibtisch sitzen zu bleiben, als rauszugehen und sich einem Gespräch mit Unbekannt zu stellen. Natürlich, es braucht Zeit, in Archiven zu wühlen, Gespräche vorzubereiten, sich mit Menschen zu treffen, Eindrücke und Ergebnisse zu sammeln und zu ordnen. Wer von uns, die den Großteil ihrer Zeit und Energie dem (prekären) Broterwerb widmen müssen, hat schon Zeit und Energie dafür übrig. Beim Augustin wird gerade diskutiert, ob nicht Artikel, die mit aufwändigen Recherchen verbunden sind, besser bezahlt werden sollen als andere. Die meisten freien Medien haben aber gar kein oder nur ein so massiv eingeschränktes Budget, dass sie über ProduzentInnenhonorare gar nicht nachdenken müssen. Beat Weber hat in unserem Gespräch (auch einer meiner „Investigationsversuche“) daran erinnert, dass lange Zeit in der Jungle World ein Aufruf zu lesen war, doch für einen Recherchefond zu spenden.
„Investigativer Journalismus ist bürgerlicher Journalismus!“
„Investigativer Journalismus ist bürgerlicher Journalismus. Das wollen wir nicht, wir machen was anderes.“ Auch eine der Wortmeldungen bei der Mikro Medien Diskussion. Danach könnte man auch fragen: Was sind denn journalistische Formen und Methoden der alternativen bzw. freien Medien? Gibt es so etwas wie eine Methodenreflexion in diesen Medien? Etwas wie ein Bewusstsein, woraus sich diese Medien auf einer formalen oder methodischen Ebene eigentlich zusammensetzen? „Wir machen was anderes.“ – Haben wir („wir“ als „die, die freie, alternative Medien (mit)gestalten und produzieren“) sämtliche journalistischen Formen, die wir verwenden, als genuin „freie“, „alternative“ Formen völlig neu erfunden? Oder ist es nicht vielmehr so, dass wir – und das halte ich eigentlich für einen Gemeinplatz – natürlich mit den Formen arbeiten, die sich über 150 Jahre (Print)Journalismus herausgebildet haben? Wir machen Interviews, schreiben Kommentare, Analysen, Glossen, portraitieren Menschen, produzieren Features oder bauen Beiträge aus O-Tönen und Moderationstext, schreiben oder produzieren manchmal, ganz selten, Reportagen. Dabei darf es, das schon, ein bisschen Experiment in der Umsetzung, ein bisschen schräg im Ton, ein bisschen „unprofessionell“ in der Moderation sein. Aber diese Textsorten hat es alle schon gegeben, als unsere „Ahnen“ irgendwann in den Siebzigern anfingen, so etwas wie Alternativen zu den Mainstream-Medien zu entwickeln.
Was „wir“ anders machen, ist, diese Textsorten aus einer anderen Perspektive zu verwenden; wir legen eine Folie darüber und sagen: Objektivität, abgesehen davon, dass sie ein Konstrukt ist, interessiert uns nicht. Wir interessieren uns für die da unten oder das dort ums Eck, und zwar interessieren wir uns dafür aus einer radikal subjektiven Perspektive, oder aus einer radikal einseitigen Perspektive. Wir interessieren uns überhaupt für „andere“, alternative, im Gleichklang nicht hörbare, im schönsten und im schlimmsten Wortsinn „abwegige“ Perspektiven, Ansichten, Meinungen. Aber wir verwenden ausschließlich Textsorten, deren Form „wir“ nicht erfunden haben. So wie sprachliche, literarische, künstlerische... Formen eben von jedem, der/die sie verwendet, weiterentwickelt, umgedeutet, neu erfunden werden können. Auf der Basis dessen, was seit Jahrhunderten an Formen für die öffentliche Debatte oder Information entwickelt und benutzt wird. „Wir“ haben keine Textsorten erfunden. Genauso wenig wie das Interview eine Textsorte ist, die genuin zu den „bürgerlichen Medien“ gehört, ist „investigativer Journalismus“ genuin bürgerlich und deshalb pfui. Es schafft uns ja niemand an, wie wir ihn einsetzen und nutzen, welche Ziele wir damit verfolgen wollen sollen.
Oder: Ist der Antrieb fürs Schreiben einfach nicht journalistisches Interesse?
Die einzige wirklich schlüssige Antwort auf die Frage nach dem „investigativen Journalismus“ kam, fand ich, von einem der Jungle World-Redakteure: Die meisten, die in freien Medien schreiben, machen das nicht vorrangig aus einem journalistischen Interesse heraus, sondern weil sie sich theoretisch, politisch, aktivistisch oder analytisch mit Thematiken auseinandersetzen und letztlich das der Antrieb fürs Schreiben ist. Eher nach dem Motto „The message is the message“ und weniger nach dem Motto „The medium is the message“?
Vielleicht sollte die Frage ja gar nicht lauten, „Warum gibt es eigentlich keinen investigativen Journalismus in den freien und alternativen Medien?“, sondern vielmehr: „Warum gibt es keine Reflexion der Formen und Methoden, derer wir uns publizistisch bedienen – und zu welchem Zweck?“
Veronika Leiner beschäftigt sich seit einigen Jahren intensiv mit freien Medien, verdient ihr Geld derzeit allerdings in einem unfreien Medium.