VorRisse

Die Darstellung und Bearbeitung gesellschaftlicher Problem- und Konfliktfelder durch die Sozialreportage scheint in den letzten Jahren ein kleines Revival zu feiern. Dort, wo nicht bloß von vermeintlichen „Zentren“ oder „Normen“ aus auf scheinbare „Ränder“ oder „Abweichungen“ geblickt wird, verfügt diese Darstellungsform nach wie vor über gesellschaftskritisches Potenzial.

Günter Wallraff hat ein Problem: Der Journalist, der Mitte der 1980er Jahre bereits „ganz unten“ war, tut sich schwer, das von ihm selbst vorgegebene Niveau zu unterbieten. An ambitionierten Versuchen mangelt es freilich nicht: „Unter null“ lautet etwa der Titel einer im März 2009 im Zeit-Magazin veröffentlichten Reportage über Obdachlosigkeit in Deutschland. Dabei interessiert hier weniger Wallraff selbst als vielmehr die mitunter mit seinem Namen assoziierte Textsorte der Sozialreportage: Als Darstellungsform ist diese nämlich häufig durch die sich in den zitierten Titeln andeutende Distanz gekennzeichnet. Unabhängig vom jeweils gewählten Medium beschäftigt sich die Sozialreportage also mit dem, was zumindest sozial weit entfernt scheint: „ganz unten“ eben, oder gar „unter null“. Hinter dem Versuch einer künstlerischen, journalistischen oder wissenschaftlichen Darstellung solcher sozialen Phänomene stehen allerdings, wie die vorliegende Kulturrisse-Ausgabe zeigt, vielfältige Motivlagen. Dass dabei auch das – im Sinne einer gesellschaftskritischen Praxis – gut Gemeinte nicht immer gut ist, liegt auf der Hand.

So geht Aylin Basaran in ihrem den Heftschwerpunkt eröffnenden Text einigen Fallstricken der filmischen Sozialreportage nach. Diese resultieren ihr zufolge zentral aus deren Image, eine besonders „authentische“ Form der Darstellung „des Anderen“ zu liefern, wodurch sie erst zu dessen Markierung und Marginalisierung als „Anderes“ beiträgt. Michael Bigus liefert im Anschluss daran einen Überblick über die Geschichte der sozialdokumentarischen Fotografie und fragt danach, wie diese sich jeweils zu ihrem „Objekt“ – den Lebensbedingungen subalterner Klassen und Gruppen – ins Verhältnis setzte. Die Wiener Tradition der Sozialreportage steht in der Folge im Zentrum des Beitrags von Stefan Probst, der anhand der Arbeiten von Emil Kläger und Max Winter vom Anfang des 20. Jahrhunderts grundlegende Ambivalenzen des Genres zwischen „exotisierendem Spektakel und sozialreformerischen Impulsen“ in den Blick nimmt.

Der Artikel von Lisa Bolyos führt uns im Anschluss daran zurück in die Gegenwart und zu jenem Gegenstand, der heute vielfach im Zentrum (unter anderem) von Sozialreportagen steht, nämlich Flucht und Migration. Anhand mehrerer Neuerscheinungen beschäftigt sie sich dabei mit deren Darstellung in journalistischen Reportagen, aber auch in autobiografischen Berichten und fiktionalen Erzählungen. Die (Selbst-)Reflexion der eigenen, aber auch der journalistischen Praxis anderer ist in der Folge das Thema, mit dem sich Katharina Ludwig auseinandersetzt. Gefragt wird hier nach Strategien, mittels derer Bilder von Migration nicht bloß dekonstruiert, sondern auch aktiv gesucht werden können, ohne dabei Unvorhergesehenes auszuklammern. Vorhersehbar schließlich ist das Happy End jener Bücher, die Daniela Koweindl in ihrem Beitrag bespricht: Von einem Philosophen und einer Journalistin wird hier vom Leben „auf Hartz IV“ berichtet, auf das sich die AutorInnen nicht zu Recherchezwecken, sondern aus ökonomischer Notwendigkeit eingelassen haben. Dabei stellt sich die Frage, wie sich Perspektiven verschieben, wenn die eingangs erwähnte soziale Distanz zumindest temporär – bis zum „Happy End“ also – eingeebnet wird.

Die Darstellung und Bearbeitung gesellschaftlicher Problem- und Konfliktfelder durch die Sozialreportage scheint in den letzten Jahren ein kleines Revival zu feiern. Dort, wo nicht bloß von vermeintlichen „Zentren“ oder „Normen“ aus auf scheinbare „Ränder“ oder „Abweichungen“ geblickt wird, verfügt diese Darstellungsform nach wie vor über gesellschaftskritisches Potenzial. Welche Fallstricke am Weg von der „gut gemeinten“ zur „guten“ Sozialreportage liegen und wie ihnen zu begegnen ist, versuchen die Beiträge des Heftschwerpunkts für verschiedene Genres und Medien auszuloten.

Ähnliche Artikel

Prekär leben viele, prekär ist vieles. Einmal im Jahr – am transnationalen Arbeiter*innenkampftag – gehen wir gemeinsam auf die Straße, versammeln Anliegen und Kämpfe um Details wie auch ums große Ganze. Aufruf zur Teilnahme am MayDay 24 - Parade der Prekären am 1. Mai.
Ist nicht am Ende gerade der Zusammenbruch der Illusion über das tadellose Funktionieren des kapitalistischen Marktes der Geburtsort der heutigen radikalen rechten Politik in Kroatien?
Als einfacher Arbeiter am unteren Ende der Hierarchie dieses Theaters erkannte ich meinen Arbeitsort in einem größeren Zusammenhang: Nationalstaatlichkeit, hochkulturelle Produktion, EU-Anti-Migrations-Politik, globaler Kapitalismus und neoliberale Prekarisierung von Arbeit. Am Burgtheater sind diese Phänomene in einem Geflecht ineinander verwoben.