Herren und Menschen
Die Gadje kennen die Roma nicht, oder besser ausgedrückt, sie kennen die Roma nur dadurch, dass sie sie durch eine bestimmte Brille sehen, weil sie einen Vorteil aus dieser, ihrer Art von Wissen ziehen. Es ist ein Wissen, das ihnen Macht garantiert, sodass ihnen die Herrschaft und den Roma das „Beherrschtsein“ natürlich erscheint.
Gadje kennen die Roma nicht gut genug! Warum eigentlich? Leben denn diese Roma nicht seit Hunderten von Jahren mit ihnen zusammen? Leben sie nicht in Dörfern, in Vorstädten, in den für sie reservierten Räumen und außerhalb, als Teil der seit langem existierenden Urbanität, gläubig oder ungläubig wie alle, sehr wenige reich, sehr viele arm, wenige mit Beruf, sehr viele ohne Ausbildung, bekannt und anonym, arbeitend in den Fabriken, auf der Straße, AltwarenhändlerIn, AlteisensammlerIn, MusikerIn, KleinhändlerIn, unter sich und unter allen, mit und ohne Staatsbürgerschaft, autochton und alochton, als Frauen, Männer, Kinder, Jugendliche und Alte, überall? Kann man sie nicht überall treffen? Warum kennt man sie dann nicht? Warum weiß man in unseren Gesellschaften, in denen über jede/n und alles in vielerlei Hinsicht ein genaues Protokoll geführt wird, über sie so wenig? Wo wohnen sie? Wo gehen die Kinder in die Schule? Wo feiern sie? …
Warum glauben die Gadje dann aber, sie trotz dieses Unwissens auf der Straße zu erkennen? Mit dem „Erkennen“ treten wir in den Bereich des Vorurteils. Ein Vorurteil ist keine Anomalie in der Psyche der Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft, sondern ein Teil eines Diskurses, das heißt, es wird in dieser Form, in der wir es kennen, hervorgebracht, erhalten und in Zukunft weiter projiziert. Vorurteile haben nichts mit einer individuellen Psyche zu tun, denn ein Vorurteil ist primär ein gesellschaftliches Phänomen, und erst sekundär, davon abgeleitet, wird es von den Einzelnen gepflegt. Ein Vorurteil ist ein Gruppenurteil über die anderen Gruppen, das sich in der individuellen Beziehung niederschlägt, keineswegs aber aus dieser entspringt und schon gar nicht durch die Therapeutisierung individueller Interaktionswege heilbar ist.
Die Gadje kennen die Roma nicht, oder besser ausgedrückt, sie kennen die Roma nur dadurch, dass sie sie durch eine bestimmte Brille sehen, weil sie einen Vorteil aus dieser, ihrer Art von Wissen ziehen. Es ist ein Wissen, das ihnen Macht garantiert, sodass ihnen die Herrschaft und den Roma das „Beherrschtsein“ natürlich erscheint.
Wollen wir uns also aus dieser Situation befreien, müssen wir dieses Herrschaftsverhältnis durchbrechen. Wie? Das ist genau die Frage, die sich ein auf die Emanzipation von Roma bedachtes Projekt stellen muss. Der erste Schritt auf diesem Weg des politischen Kennenlernens ist der einer Erweiterung des Gemeinsamen, also des Platzmachens. Es ist die Fokussierung und Bekanntmachung der in unseren Gesellschaften praktizierten Herrschaftsmechanismen, von deren Rechtfertigungen und von deren Genealogien. Am Anfang steht das Bewusstsein, dass die rassistischen Selbstverständlichkeiten nicht selbstverständlich und natürlich sind, sondern als Resultate gesellschaftlicher Kämpfe hergestellt wurden.
Übrigens: „Gadjo“ heißt auf Romanes „Herr“. Die Menschen (Roma) wissen seit je, dass sie sich in einer Machtkonstellation, in einer Machtbeziehung zu den Herren befinden. So sehr, dass alle Nicht-Roma als „Herren“ Eingang in das Romanes gefunden haben.