Haderer: Empfiehlt der Bundeskanzler die Anklage und Verurteilung?
An Bundeskanzler
Dr. Wolfgang Schüssel
Es gilt die Freiheit des Wortes!
Betrifft: Ihre Äußerungen zu Gerhard Haderer - Offener Brief
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, Dr. Wolfgang Schüssel!
Sie haben uns als Berufsvereinigung der österreichischen Schriftsteller in eine äußerst schwierige Lage gebacht. Als eine solche Berufsvereinigung vertreten wir - analog zur Charta des Internationalen P.E.N.: Es gilt die Freiheit des Wortes! Damit ist selbstverständlich sowohl die Freiheit der Meinungsäußerung als auch die der Medien, der Kunst, der Wissenschaften und jedes und jeder einzelnen gemeint. Ebenso gemeint sind die Überzeugungsfreiheiten, wie sie im österreichischen Grundrechtekatalog festgeschrieben sind. (Die Politik, die durch ihre Immunität auf die ihr eigentümliche Weise geschützt ist, muß in diesem Zusammenhang nicht extra erwähnt werden.) Klar ist darüber hinaus, daß Ihnen als Bundeskanzler öfter Gelegenheit gegeben sein wird, von dieser Freiheit des Wortes, insbesondere der Freiheit der Meinungsäußerung, in für breite Kreise der Bevölkerung zugänglicher Form Gebrauch zu machen, als das Berufsvereinigungen von Künstlern oder einzelnen Künstlern möglich ist.
Man könnte also sagen, es handle sich bei Ihren Äußerungen über das Buch Gerhard Haderers, „Das Leben des Jesus“, es seien „Schundzeichnungen“ bzw. „sollten religiöse Empfindungen von Menschen nicht auf eine derartige Weise verletzt werden“, und mit ihrer Feststellung, Haderer habe mit dem Werk eine Grenze überschritten, um schutzwürdige Äußerungen, wie sie der Freiheit der Meinungsäußerung und der Freiheit der Medien entsprechen.
Einerseits. Andererseits haben Sie als ranghöchster Vertreter der österreichischen Bundesregierung und als - gemeinsam mit dem österreichischen Bundespräsidenten - oberster politischer Hüter der österreichischen Bundesverfassung damit der ebenfalls verfassungsmäßig garantierten Kunstfreiheit eine Schranke gesetzt, die der Verfassung nicht entspricht, da die Verfassung keinerlei Beschränkung der Kunstfreiheit - wie etwa bei der Freiheit der Meinungsäußerung - durch einfachgesetzliche Normen vorsieht. Der Strafrechtsparagraph 188, Herabwürdigung religiöser Lehren, auf den Sie sich offensichtlich berufen, beschränkt die verfassungsrechtliche Kunstfreiheit somit nicht. Es ist auch nicht möglich, sich bei einer solchen Grenzziehung auf den religiösen Überzeugungsschutz in der Verfassung als kollidierenden Verfassungsparagraphen zu berufen, da dieser Verfassungsparagraph die Religions- und Glaubenswahl sichert, ergo durch diesen Paragraphen ebenso die religiöse Überzeugung und religiöse Wahlfreiheit des Autors des Buches „Das Leben des Jesus“ geschützt ist, und unseres Wissens die Österreichische Bundesverfassung nicht dazu dient, um Mehrheiten vor Minderheiten oder größere und kleinere Gesellschaftsgruppen vor dem einzelnen zu schützen, sondern dazu, die Rechte des einzelnen in der Gesellschaft zu wahren, sei es nun in Fragen des Glaubens oder in anderen.
Wir sehen uns aber auch deshalb in eine schwierige Lage gebracht, weil Ihnen als Bundeskanzler das Kunstressort direkt unterstellt ist und Sie im Sinne der politischen Letztverantwortlichkeit Kunstminister sind und das Buch Haderers genauso in dieser Eigenschaft als nicht rechtskonform verurteilt haben. Wir wissen nicht, ob das als Empfehlung für ein mögliches gerichtliches Verfahren gegen das Buch und für ein mögliches Verfahrensergebnis zu verstehen ist, wir können es aber auch nicht mehr ausschließen. Es ist jedenfalls in der zwei Jahrzehnte langen Geschichte der Kunstfreiheit in Österreich zum ersten Mal der Fall, daß ein amtierender Bundeskanzler, der zugleich der Letztverantwortliche in den Bereichen Kunst und Medien ist, eine solche Festlegung trifft, bevor noch die Staatsanwaltschaft oder ein Gericht zu ihren Einschätzungen gekommen sind.
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, wir haben schon in der Folge der kritischen Äußerungen des Wiener Erzbischofs Christoph Schönborn über das Buch von Gerhard Haderer den Standpunkt vertreten, daß diese Äußerungen dazu benützt werden, um einen Kulturkampf anzutragen, den niemand führen wollte oder will. Und wir sind immer mehr der Meinung, daß es sich um eine stellvertretende Auseinandersetzung handelt, die jetzt offenbar auch als politische Auseinandersetzung geführt werden soll. Wir glauben insbesondere, daß es in Fragen der Überzeugungen darum geht, zu überzeugen, und nicht um Diktate und Verbote. Und wir wissen aus den Erfahrungen der letzten Monate, und weil dieser Religionsvergleich immer wieder strapaziert wurde und wird, wohin der unantastbare Glaube in ihrem Glauben unbeirrbarer Gotteskrieger führt. Der in diesem Zusammenhang von inoffizieller Seite angeschlagene Ton erinnert daher nicht zufällig an die über Salman Rushdie verhängte Fatwa, deren Konsequenzen zwar in keiner Weise zu befürchten sind, aber deren Geist ganz offensichtlich auch durch unseren Kulturkreis weht.
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, wir meinen daher, es müßte zumindest durch Sie klargestellt werden, daß Sie mit Ihren Äußerungen keinerlei Einfluß auf eine Anklageerhebung nehmen wollten und erst recht keinen Einfluß auf eine Gerichtsentscheidung. Wir meinen auch, daß durch Sie klargestellt werden müßte, daß Sie keinerlei Absicht haben, die Kunstfreiheit zu beschränken. Und wir meinen schließlich ein weiteres Mal, daß sich die direkte Anbindung der Kunstverwaltung an das Bundeskanzleramt, die keine Unterscheidung erlaubt, wann ein Bundeskanzler als Bundeskanzler und wann ein Bundeskanzler in Kunstangelegenheiten spricht, als gescheitert herausgestellt hat.
Wir ersuchen Sie daher ebenso um die von uns erbetenen Klarstellungen wie um die Bekanntgabe, wie eine - bis zur Einführung der „Chefsache Kunst“ Anfang 1997 ja bestehende - hinkünftig bessere Funktionstrennung zwischen dem Amt des Bundeskanzlers und dem eines Kunstministers aussehen könnte.
Hochachtungvoll
und mit freundlichen Grüßen
Gerhard Ruiss
IG Autorinnen Autoren
Wien, 7.4.2002