Die Wende verwinden

Komischerweise hat mich an der Wende am meisten das Moralische, das Kulturpolitische, das Erinnerungspolitische gestört, und es stört mich noch immer. Ich sage komischerweise, denn die FPÖ wird im Inland eher als eine neoliberale Partei gesehen. Ich sehe sie vor allem als eine nationalpopulistische und (seit Haiders Coup auf dem Innsbrucker Parteitag von 1986) als eine revisionistische und nazifreundliche Partei.

Ein Jahr nach der Wende vom Februar 2000 erschien mein politisches Tagebuch "L'Autriche de M. Haider. Un journal de l'année 2000". In dieser subjektiven Chronik, die nach dem EU-Gipfel von Nizza abgeschlossen werden musste, damit das Buch rechtzeitig erscheinen konnte (ich war zugleich froh, die Last dieses Tagebuchs abzustreifen, das mich von anderen Arbeiten abhielt), ging ich zum ersten Mal in meinem Leben (im Februar 2000 war ich 46 Jahre alt geworden) mit einem halb literarischen Produkt an die Öffentlichkeit. Dies war für die Rezeption vor allem in Österreich selbst ein Störfaktor. Klaus Zeyringer zum Beispiel rezensierte mich im Standard und verriss das Buch, als ob es sich um eine wissenschaftliche Publikation handeln würde. Ich hätte den Vornamen von Frau Riess-Passer verwechselt, ich hätte einige Politiker der falschen Partei zugeordnet. Das sei alles wissenschaftliche Schlamperei.

War es vielleicht auch. Bloß, ich hatte nie die Absicht gehabt, mit der Politikwissenschaft zu konkurrieren. In Frankreich wurde mein Buch ganz anders rezipiert, als Dokument und Zeugnis der persönlichen Betroffenheit. Man wusste den Tagebuch-Autor Le Rider vom akademischen Germanisten Le Rider zu trennen.

Wenn ich das Ganze im Rückblick resümiere, so fühlte ich mich damals aufgerufen, meine beleidigte Zuneigung zu Österreich zum Ausdruck zu bringen. Ich hatte seit meiner Jugendzeit mit der Vorstellung eines besseren Österreich gelebt. Ich hielt die kleine Koalition für eine schäbige und fahrlässige Schädigung des Österreich-Bildes in der Zeitgeschichte des Fin de siècle 2000.

Komischerweise hat mich an der Wende am meisten das Moralische, das Kulturpolitische, das Erinnerungspolitische gestört, und es stört mich noch immer. Ich sage komischerweise, denn die FPÖ wird im Inland eher als eine neoliberale Partei gesehen. Ich sehe sie vor allem als eine nationalpopulistische und (seit Haiders Coup auf dem Innsbrucker Parteitag von 1986) als eine revisionistische und nazifreundliche Partei. Die Akzeptanz dieser NS-Nostalgie, des Antisemitismus und der Slawenfeindschaft sind für mich etwas Ungeheures, das die politische Kultur Österreichs sehr belastet und diejenigen Lügen straft, die meinen, Österreich hätte auf seine Weise und sogar über die Gebühr seine Vergangenheitsbewältigung abgeleistet.

Deshalb konnte ich selbst mit vielen alten Bekannten und Freunden in Wien und in Österreich kein sinnvolles Gespräch führen. Diese Bekannten und Freunde reagierten als beleidigte Patrioten und nicht als Europäer auf die Kritik. Sie lobten eine erfrischende Arbeitsmarktpolitk und Finanzpolitik und Wirtschaftspolitik, etc. Auch dazu war ich übrigens sehr skeptisch, und ich habe auch keine überzeugenden Resultate gesehen, aber für mich war das Nebensache.

Hauptsache war Haider und dessen Akzeptanz im ganzen Land. Das opportunistische Bündnis der konservativen Partei mit einer demokratie- und europafeindlichen Partei war für meine Begriffe ein Verrat an der politischen Kultur Europas. Während sich alle Länder (vor allem Frankreich, Belgien, aber natürlich auch die Niederlande, Portugal, Spanien und nicht zuletzt Italien, von den skandinavischen Ländern ganz zu schweigen) besorgt zeigten über das Erstarken national-populistischer Parteien, die jeweils das Übelste aus der nationalen Zeitgeschichte revisionistisch manipulieren, erlaubte sich Österreich mit einer rücksichtslosen Unbekümmertheit, gerade eine der übelst riechenden Parteien dieser Art zu höchsten politischen Ehren gelangen zu lassen. Plötzlich übernahm dieses Land eine Vorreiterrolle und wurde für mehr als zwei Jahre das große Beispiel für Le Pen, für Berlusconi, für den Vlaams Blok - und für alle neofaschistischen, nationalistischen und demagogischen Tendenzen in Ostmitteleuropa (in Ungarn, in der Tschechischen Republik, in Polen, etc.). Dort, in den Kandidatenländern war das schlechte österreichische Beispiel extrem schädlich für die Europa-Erweiterung. Die EU wurde durch diese österreichische Wende degradiert auf einen nackten (beinahe zynischen) Wirtschafts- und Handelsverband ohne die geringste kulturelle und politische Legitimität.

Jetzt hat sich diese kleine Koalition wegen der übergroßen Destruktivität des Herrn Haider selbst zerstört. Nach ihrem Sturz sehen die großen politischen Scheusale immer wie lächerliche Vogelscheuchen aus. Hatte man 2000 die Gefahr übertrieben? Nein, ich glaube nicht. Ein reiferer Führer der FPÖ wäre in der Tat in der Lage gewesen, eine dauerhafte Verluderung der politischen Kultur Österreichs zu verschulden. Übrigens ist der Schaden immens. Wenn hoffentlich Ende dieses Jahres eine andere politische, "demokratisch gewählte" Mehrheit in Österreich regiert, hat sie kulturpolitisch von der "Stunde Null" neu zu beginnen. Die kleine Koalition hat in rasantem Tempo sehr viel zunichte gemacht, was seit Anfang der siebziger Jahre aufgebaut worden war. In Frankreich zum Beispiel ist das Bild Österreichs sehr schlecht. Wer hat nicht Angst vor Österreich und dessen politischen Launen?

Eine neue politische Mehrheit wird das internationale Ansehen des Landes völlig neu aufbauen müssen. Ich kann die Bestandsaufnahme der kulturpolitischen Katastrophe im Inland nicht richtig ermessen, weil ich seit einiger Zeit viel weniger oft als früher in Österreich war (dieses schwarzblaue Land deprimiert mich, und ich weiß ganz genau, dass ich bei sehr vielen Leuten als ein zu meidender Österreich-Feind gelte, als persona non grata sozusagen, so dass ich viel weniger als vor 2000 nach Österreich eingeladen werde), aber die Katastrophe ist, fürchte ich, auch sehr groß. Die politische Kultur eines Landes, die ja nichts anderes ist als Bestandteil der Kultur dieses Landes überhaupt, ist etwas sehr Fragiles. Eine Demokratie wird in Blitzesschnelle korrumpiert, wenn die politischen Eliten selbst korrupt geworden sind.

Diese Monate seit Februar 2000 waren für Österreich noch viel schlimmer als die "Waldheim-Affäre", aber auch für die EU und für Ostmitteleuropa sehr ungünstig. Österreich hat einen wichtigen Beitrag zum Euro-Frust und zum Erlahmen, ja zu Diskreditierung der europäischen Idee beigetragen. Merci l'Autriche! Merci beaucoup!

Meine Angst für die unmittelbare Zukunft: dass die Haider-Partei an ihrem nazifreundlichen und xenophoben Unwesen wieder genest und doch wieder 20 Prozent erreicht und vielleicht sogar mehr; dass sich eine schwarzblaue Koalition als "normale" Alternative in der politischen Kultur Österreichs etabliert.

Meine Hoffnung: dass sich ausreichend demokratisches Potenzial hinter einer tragfähigen rot-grünen Koalition versammelt. Und warum sollte sich nicht wieder eine echt liberale Partei bilden, die das verblichene Liberale Forum wieder aktivieren und die Ehrlichen und Anständigen unter den Haider-Betrogenen und -Verirrten auffangen könnte?

Meine Befürchtung: dass sich eine schwarz-rote Große Koalition wie bis Ende 1999 bildet. Im Herbst 1999 hat nicht die Haider-Partei gewonnen, sondern die Große Koalition verloren, weil jede Große Koalition, in Österreich wie überall, die Extreme dynamisiert und die Demokratie paralysiert.

Wenn ich also den Sieg der demokratischen Rationalität und die Niederlage des schwarzblauen Lagers wünsche, von ganzem Herzen, dann bringe ich damit die Hoffnung zum Ausdruck, dass sich Österreich von der "Wiederkehr der Drachen" (Doderer) befreit und wieder ein kulturell lebendiges und kreatives Land ist.

Jacques Le Rider ist Germanist und Autor des Buches "L'Autriche de M. Haider. Un journal de l'année 2000".

Ähnliche Artikel

Pressemitteilung der IG Kultur Vorarlberg vom 15.11.2024 Keine großen Sprünge, aber durchaus Anlehnung an das Update der Landeskulturstrategie ortet die IG Kultur Vorarlberg im Arbeitsprogramm unter neuer, schwarz-blauer Regierung. Eine konkretere Einordnung könne jedoch erst mit Aussagen zum Kulturbudget 2025 gemacht werden. „Alle Argumente und Maßnahmen für ein zukunftsorientiertes, faires und professionelles Kunst- und Kulturschaffen liegen ja schon eine Weile auf dem politischen Tisch. Jetzt gilt es, den von den Koalitionspartnern erklärten Vorarlberger Mut auch in Zahlen auszudrücken“, so Mirjam Steinbock von der IG Kultur Vorarlberg. Dass das Ressort Kultur bei Landesrätin Barbara Schöbi-Fink bleibt, hält die Interessensvertretung für wertvoll.
Am 6. November wurde bei der konstituierenden Sitzung im Vorarlberger Landhaus die schwarz-blaue Regierung angelobt. Die bei der Landtagswahl am 13. Oktober stimmenstärkste ÖVP wählte die FPÖ als Regierungspartner und legte unter dem Motto "Der Vorarlberger Weg - mit Mut und Verantwortung für unser Land" ein knapp 100-seitiges Arbeitsprogramm für die nächsten fünf Jahre vor. Welche Inhalte für Kunst und Kultur in dieser Zeit fokussiert und umgesetzt werden sollen, haben wir uns im Detail angesehen.
Weit vor den Vorarlberger Landtagswahlen am 13. Oktober 2024 machte der Landeshauptmann deutlich, dass Vorarlberg 2025 einen Sparkurs fahren müsse. Vor dem Hintergrund der noch jungen Fair Pay-Strategie des Landes und den Ergebnissen aus der Studie zu den Einkommensverhältnissen Vorarlberger Künstler:innen scheinen die Aussichten für den ohnehin zu gering dotierten Anteil von Kultur am Gesamthaushalt des Landes nicht rosig. Nach offiziellem Start am 6. November in die Legislaturperiode der schwarz-blauen Koalition und der noch ausstehenden Budgetrealität für nächstes Jahr bleibt als Hoffnungsschimmer zumindest das Wissen, dass sich alle Landtagsparteien 2022 einstimmig zu Fairness in Kunst und Kultur aussprachen. Wir fragten noch vor der Landtagswahl bei der Kulturabteilung nach, wie sich Fair Pay seit 2022 realisieren ließ und welche Maßnahmen gemäß der Strategie zukünftig greifen sollen.