Aufstand in der Vorstadt

Als die Menschen in Richtung Innere Stadt marschieren, provoziert die Staatsmacht die sich auflockernde Menschenmenge: Polizisten, Kavallerie und Infanterie ziehen zwischen Hofburg und Burgtheater auf, um die übrig gebliebenen DemonstrantInnen vom Platz zu verweisen. Mit gezogenen Säbeln und geschwungenen Stöcken reiten Polizisten und Militär durch die abziehenden Menschenmassen.

Wien, im Jahre 1911. Die ersten Monate des Jahres sind geprägt von vielfältigen sozialfeindlichen Reformen seitens der Regierenden, beginnend bei einer Steigerung der Milch- und Fleischpreise über neue Mietgesetzregelungen bis hin zu damit einhergehenden Mieterhöhungen.

Im September desselben Jahres kommt es daher in vielen Wiener Außenbezirken, beispielsweise in Simmering, Ottakring und Hernals zu Protestversammlungen und vereinzelten, keinesfalls gewaltfrei verlaufenden Demonstrationen „gegen die Hungerpolitik“ der Regierung (vgl. Arbeiter Zeitung, Nr. 250, 11. September 1911). Für den 17. September 1911 wird von der Sozialdemokratie zu einer Demonstration auf der Ringstraße aufgerufen: „Das hungernde Volk wird am Sonntag seine Stimme erheben, der Schrei der Empörung wird durch die Straßen Wiens erschallen“ (vgl. Arbeiter Zeitung, Nr. 251, 12. September 1911). Dieser Aufruf bleibt nicht ungehört: 100.000 Menschen versammeln sich an jenem Tag zwischen Rathaus und Burgtheater. Die Sozialdemokratie stellt keine „Ordnungskräfte“, wie es sonst üblich war. Dies und die Erfahrungen mit den jüngsten Ausschreitungen veranlassen den Statthalter und ehemaligen Ministerpräsident Freiherr von Bienerth dazu, den DemonstantInnen ein unverhältnismäßig großes Polizei- und Militäraufgebot gegenüberzustellen (vgl. Maderthaner/Musner 2000: 23). Das offizielle Ende der Demonstration wird von den sozialdemokratischen VertreterInnen gegen Mittag ausgerufen – in späteren Berichten sollten sie darauf bestehen, dass das, was in weiterer Folge geschah, kein Zeugnis der organisierten ArbeiterInnenschaft war.

Aufstand der Vorstadt

Als die Menschen in Richtung Innere Stadt marschieren, provoziert die Staatsmacht die sich auflockernde Menschenmenge: Polizisten, Kavallerie und Infanterie ziehen zwischen Hofburg und Burgtheater auf, um die übrig gebliebenen DemonstrantInnen vom Platz zu verweisen. Mit gezogenen Säbeln und geschwungenen Stöcken reiten Polizisten und Militär durch die abziehenden Menschenmassen. Sie werden über den Ring getrieben und brutal niedergestoßen, bis schließlich vor dem Sitz des Verwaltungsgerichtshofs am Judenplatz und in der Burggasse erste Schüsse fallen (vgl. Arbeiter Zeitung, Nr. 257, 18. September 1911). Noch ist unklar, von wem diese abgefeuert wurden, doch die Wut der bereits durch das massige Aufgebot von Militär und Polizei provozierten Menschen wird dadurch noch größer. Steine, Ziegel und Stöcke werden geworfen, Fensterscheiben zerbrechen; die ersten Menschen werden festgenommen, darunter auch Frauen und Jugendliche.
Die DemonstrantInnen aus der Vorstadt ziehen weiter über die Burggasse und die Lerchenfelderstraße zum Gürtel in Richtung Ottakring. Die Proteste dauern bis in den späten Abend. Kaum eine Auslage, kaum eine Straßenlaterne bleibt heil. Immer wieder wird seitens der Ordnungskräfte Feuerbefehl gegeben und „über die Köpfe der Menge geschossen“ (Maderthaner/Musner 2000: 31). Bald gibt es die ersten Toten. „Erst gegen zehn Uhr abends, als Ottakring in völliger Dunkelheit lag, brachten Polizei und Militär die Lage unter Kontrolle“ (ebd.: 33). In der AZ vom darauf folgenden Tag distanziert sich die Sozialdemokratie von diesen Vorfällen, indem sie konstatiert, dass der Großteil der ArbeiterInnenschaft bereits vor Beginn der Eskalation abgezogen sei und danach „junge Burschen“ (Arbeiter Zeitung, Nr. 257, 18. September 1911) aus der Vorstadt die Geschehnisse dominiert hätten. „Ein Polizeibericht kommt zum Schluß, daß unter diesen jugendlichen Demonstranten Halbwüchsige aus Ottakring in einem überproportionalen hohen Ausmaß vertreten waren und daß dieser Gemeindebezirk offenbar der ‚Hauptsitz der Exzendenten‘ ist“ (Maderthaner/Musner 2000: 25).

Im Folgenden wollen wir einen Blick auf die gesellschaftliche Situation „hinter“ diesen Unruhen werfen und untersuchen, wie die „anarchischen“ Vorstädte mit ihren ArbeiterInnen und dem sogenannten „Lumpenproletariat“ entstanden und welche Bedeutung sie für die sich formierende Sozialdemokratie hatten.

Migration nach Wien

Wien erlebte im Laufe des 19. Jahrhunderts einen enormen Bevölkerungsanstieg. Um 1900 lebten schließlich mehr als zwei Millionen Menschen in der Stadt (vgl. Fassmann et al. 2006: 161). Die Wachstumsrate war dabei jedoch keineswegs regelmäßig über die Stadt verteilt – einen überproportional starken Bevölkerungszuwachs wiesen die Vorortgemeinden auf. Dies ist auf zwei, etwa zeitgleich verlaufende Entwicklungen zurückzuführen: einerseits auf die massive Immigration nach Wien, der Hauptstadt des Habsburgerreiches, sowie andererseits auf die sukzessive räumliche Verdrängung der unteren sozialen Schichten aus dem Stadtzentrum in die peripheren Gebiete Wiens (vgl. Maderthaner/Musner 2000: 66).

Der Grund für die zunehmenden Migrationsbewegungen nach Wien liegt in den tiefgreifenden politischen und ökonomischen Veränderungen des 19. Jahrhunderts. Im Zuge der – in Österreich verspätet eingesetzten – Industrialisierung büßten ländliche Gegenden ihre zentrale Rolle im Produktionsprozess gegenüber den neuen, städtischen Industriezonen ein (vgl. Bruckmüller 2001: 211). Die Revolution von 1848 brachte die Aufhebung der Grunduntertänigkeit mit sich – die Bauern waren jetzt Staatsbürger und (potenzielle) Eigentümer des Bodens – und schuf so die Voraussetzung für eine zunehmende Kapitalisierung des Bodens wie für eine Mobilisierung der Menschen (Komlosy 2003: 155f.). Darüber hinaus zog die vom „Wiener Börsenkrach“ (1) ausgehende ökonomische Depression krisenhafte Tendenzen in der Landwirtschaft nach sich, die von einer Reihe an Missernten und dem immer stärker werdenden Preisdruck durch billiges Getreide aus Amerika begleitet wurden. Massive Pauperisierungsprozesse, Dorfarmut und eine faktische Entvölkerung einzelner ländlicher Gebiete waren die Folge und ein Mitgrund für die großen Migrationsströme in die Stadt. Zudem kam diese Binnenwanderung dem steigenden Bedarf an Arbeitskräften entgegen, der in Wien als einem expandierenden urbanen und industriellen Zentrum herrschte. Die zugezogenen Menschen stammten aber nicht nur aus der ländlichen Umgebung Wiens, sondern wanderten aus den verschiedenen Kronländern der Monarchie ein. Die meisten MigrantInnen kamen aus Böhmen, Mähren und Schlesien. Entsprechend der Arbeitsmöglichkeiten siedelten sich die von den ländlichen Gebieten in die Stadt ziehenden Menschen vor allem in den Vororten und industriellen ArbeiterInnenvorstädten an.

Die Stadt als Zwiebel

Durch diese Entwicklung wurden sozialräumliche Verteilungsmuster verfestigt, die parallel dazu durch stadtpolitische Entwicklungen auf anderen Gebieten entstanden waren (vgl. Maderthaner/Musner 2000: 41f.). Wien erfuhr in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine entscheidende, bauliche Umgestaltung. Im Zuge der Ringstraßenverbauung und der damit verbundenen Transformation der alten Gewerbevorstädte zu Mittelschichtsquartieren fand eine räumliche Verdrängung der sozialen „Unterschichten“ in die Gebiete jenseits des ehemaligen Linienwalls – dem heutigen Gürtel – statt (Banik-Schweitzer 1982: 15ff.). Am höchsten war die Dichte von ArbeiterInnen und dem sogenannten „Lumpenproletariat“ in Bezirken wie Simmering, Favoriten, Brigittenau, Floridsdorf oder Ottakring. Das Bild dieser Vorstädte war von der zunehmenden Industrialisierung geprägt, von rauchenden Fabriken sowie von rasanter Stadterweiterung, meist in Form von Zinskasernenbauten. Die ProletarierInnen siedelten in ArbeiterInnenwohnquartieren in der Nähe ihrer Arbeitsstätten; ob des Fehlens von leistungsfähigen Verkehrsmitteln war es notwendig, dass die Wohnorte nicht zu weit von der Fabrik entfernt lagen. Die Mieten für die Unterkünfte in den Vorstädten waren exorbitant hoch, die Wohnverhältnisse katastrophal. Jeden Abend wurden unzählige Obdachlose von der Polizei aus dem Inneren der Stadt in die Vororte außerhalb des Linienwalls gebracht. Die Wiener Außenbezirke sowie die dortigen, miserablen Lebensverhältnisse um 1900 waren also das Resultat sozialer und städtebaulicher Exklusion.

Das „Lumpenproletariat“ und die Sozialdemokratie

Vor diesem Hintergrund versuchte die sich Ende des 19. Jahrhunderts formierende Sozialdemokratie die „anarchischen“ Zustände in den Vorstädten politisch zu regulieren. Ihre Position blieb dabei lange widersprüchlich, da ihre politische Ausrichtung während des Gründungsprozesses noch nicht völlig festgelegt war: Die „Radikalen“ rechneten auch das „Lumpenproletariat“, die Arbeitslosen und Tagelöhner zur ArbeiterInnenklasse und wollten diese politisch mobilisieren. In den Augen der „Gemäßigten“ galt es demgegenüber, die IndustriearbeiterInnen zu organisieren sowie zu disziplinieren (Staudacher 1988: 5).

Bis zur Gründung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) auf dem Hainfelder Parteitag 1889 hatte sich in der Sozialdemokratie die Position der Gemäßigten durchgesetzt. So schwor sich die SDAP dort auf einen „gesetzlichen Weg“ (ebd.: 80) zur Überwindung des Kapitalismus und der rückständigen Staatsordnung der k. u. k. Monarchie ein. Die Grundlage dafür sollte die Mobilisierung und Organisierung der (industriellen) ArbeiterInnenschaft bilden. Allerdings waren die staatlich-institutionellen Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt: Die SDAP fand oft keine Bündnispartner und konnte ihre Politik wenig bis gar nicht durchsetzen. „Stagnation und Defensive ließen sie auf ihr traditionelles Instrumentarium der Politik der Straße zurückgreifen“ (Maderthaner/Musner 2000: 96). So setzte die Sozialdemokratie auch 1911, als sie sich im Parlament nicht durchsetzen konnte, im Kampf gegen die massiven Teuerungen der Lebensmittel auf die Massenmobilisierung der Vorstädte im Rahmen einer Großdemonstration. Das war deshalb möglich, weil die Organisationsstruktur und Macht der SDAP in Wien auf den Vorstädten basierte. Diese waren zum einen lange von den „Radikalen“ dominiert und wiesen zum anderen eine hohe Durchmischung und Verschmelzung von IndustriearbeiterInnen und „Lumpenproletariat“ auf. Daher waren sie die Grundlage der sozialdemokratischen Organisation – allein die Ottakringer Parteiorganisation trug doppelt so viel zur Parteikasse bei wie ganz Böhmen (ebd.: 65).
Die aus den Widersprüchen zwischen Selbstverständnis, politischer Strategie und realer Situation in den Vorstädten erwachsenden Ambivalenzen zeigten sich in den Reaktionen der Sozialdemokratie auf die Hungerrevolte von 1911. Anders als z. B. die Freie Presse konnte es sich die SDAP nicht leisten, den Aufstand der Vorstadt „feindlichen“ Elementen des „Lumpenproletariats“ zuzuschreiben; es war ein Aufstand der Vorstadt und damit der sozialdemokratischen Massenbasis.

Zwischen „Anarchie“ und Organisation

Die Betrachtung der Wiener Vorstädte um 1900 relativiert das stereotype Bild der Stadt zur Jahrhundertwende. Wie in anderen industriellen Zentren bildete auch in Wien die steigende Zahl der ArbeiterInnen und des „Lumpenproletariats“ einen wesentlichen Teil der Stadtbevölkerung. Wohnungsnot, Hunger und Ausbeutung kennzeichneten den Alltag. Die Vorstädte Wiens wuchsen durch die Verdrängung der sozialen „Unterschichten“ aus der Inneren Stadt in die Außenbezirke sowie durch die Zuwanderung aus verschiedenen Gebieten der Habsburgermonarchie massiv an. Sie bildeten die Basis für die Formierung der Sozialdemokratie, die später mit dem Projekt des Roten Wien für eine neue Stadtpolitik stand. Dabei wirkte die neue Partei nicht nur organisierend, sondern tendierte ebenso zu Regulierung und Kontrolle des „Wilden Proletariats“ in den Vorstädten. Die Sozialdemokratie spielte somit eine ambivalente Rolle, die sich zwischen Organisierung und Aktivierung einerseits und Regulierung der „anarchischen Zustände“ in den Vorstädten andererseits bewegte.

Fußnote
(1) 1873 stürzten die Aktienkurse an der Wiener Börse aufgrund einer Überhitzung der Konjunktur ins Bodenlose. Der „Wiener Börsenkrach“ läutete das Ende der Gründerzeit ein, die auf ihn folgende Depressionsphase wird oft als „Gründerkrise“ bezeichnet.

Anmerkung
Dieser Text erschien zuerst in einer Langfassung in Perspektiven Nr. 11, dem Magazin für linke Theorie und Praxis (www.perspektiven-online.at).

Literatur
Banik-Schweitzer, Renate (1982): Zur sozialräumlichen Gliederung Wiens, Wien.

Bruckmüller, Ernst (2001): Sozialgeschichte Österreichs, Wien.

Fassmann, Heinz/Hatz, Gerhard/ Patrouch, F. Joseph (2006): Understanding Vienna, Wien.

Komlosy, Andrea (2003): „Empowering and Control. Conflicting Central and Regional Interests in Migration Within the Habsburg Monarchy“. In: Fahrmeir, Andreas u. a. (ed.): Migration Control in the North Atlantic World, UK.

Maderthaner, Wolfgang/ Musner, Lutz (2000): Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, Frankfurt/Main.

Staudacher, Anna (1988): Sozialrevolutionäre und Anarchisten. Die andere Arbeiterbewegung vor Hainfeld, Wien.

 

Veronika Duma, Tobias Zortea, Katherina Kinzel und Fanny Müller-Uri
sind aktiv in der Gruppe Perspektiven.

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