Zarte Pflanze, harter Wind

Bei Betrachtung der politischen Situation in Estland fällt die Diskrepanz zwischen der ausgesprochen fragmentierten Natur der linken Bewegung und der heftigen Reaktion des Staates auf das jüngste Aufkommen einer außerparlamentarischen sozialen Bewegung auf.

Bei Betrachtung der politischen Situation in Estland fällt die Diskrepanz zwischen der ausgesprochen fragmentierten Natur der linken Bewegung und der heftigen Reaktion des Staates auf das jüngste Aufkommen einer außerparlamentarischen sozialen Bewegung auf. Aus diesem Grund befasst sich der folgende Text vorwiegend mit einem der wichtigsten Probleme, mit dem sich politische AktivistInnen in Estland konfrontiert sehen: einem steigenden Druck von Seiten der repressiven Staatsorgane, verbunden mit einer Reihe von Gesetzesänderungen, die durchgesetzt wurden, um die BürgerInnenrechte zu beschneiden und politischen Aktivismus zu kriminalisieren. Der Beitrag gibt einen kurzen Einblick in jene Aktionen, die in letzter Zeit initiiert wurden, um den alarmierenden Tendenzen einer sich verschärfenden staatlichen Kontrolle in Estland entgegen zu wirken, beleuchtet aber auch jüngste Entwicklungen neuer linker Bewegungen in den baltischen Staaten sowie Übergänge zwischen politischem Aktivismus und zeitgenössischer Kunst.

Restriktive Gesetze und inoffizielle Drohungen
Im Frühjahr 2008 gründete sich die zivile Bewegung Kein Polizeistaat! gegen das so genannte „April Paket“, eine vom Innenministerium eingebrachte Gesetzesnovelle. Wie die Kurzbezeichnung andeutet, stand der unmittelbare Anlass für die Novelle in Zusammenhang mit den Massendemonstrationen vom April 2007 gegen die Entscheidung der Regierung, ein sowjetisches Kriegsdenkmal aus dem Stadtzentrum von Tallinn zu entfernen. Nach einer längeren Zeitspanne mit fragwürdigen Einschränkungen der Versammlungsfreiheit (zwischen 2006 und 2007 kam es zu etlichen Situationen, in denen öffentliche Versammlungen im gesamten Land oder im Nahbereich des damaligen Standorts des umstrittenen Denkmals vorübergehend verboten wurden) zielte das „April Paket“ auf eine nachträgliche Legalisierung der exzessiven Polizeigewalt gegen die DemonstrantInnen im April 2007, auf die Einführung gesetzlicher Rahmenbedingungen für präventive Polizeimaßnahmen und letztlich darauf ab, künftig jegliche Form von Massenprotesten zu verhindern. Die Kampagne der Bewegung Kein Polizeistaat!, die aus einer Petition, einer Demonstration und einigen direkten parlamentarischen Einsprüchen bestand, war in gewissem Ausmaß erfolgreich: Die Gesetzesnovelle wurde in einer gemäßigten Form angenommen, in der die meisten strittigen Passagen weggelassen waren (etwa das Verbot zum Aufruf öffentlicher Versammlungen, das auf eine Verfassungsänderung abzielte, ein Vermummungsverbot auf Demonstrationen und einige Stellen mit Bezug auf die Einschränkung der Versammlungsfreiheit, während die Aufnahme von Elektroschockwaffen und Wasserwerfern in die Polizeiausrüstung nicht verhindert werden konnte).

Nachdem das Gesetz vom Parlament verabschiedet worden war, löste sich die Bewegung Kein Polizeistaat! auf, doch bereits ein Jahr später wurde eine neue Kampagne unter dem Motto Schützt die Versammlungsfreiheit! gestartet. Nun, im Juni 2009, bestand das Ziel darin, die Verabschiedung einer Strafgesetznovelle zu verhindern, die es in der Nachfolge des „April Pakets“ erlauben sollte, strafrechtliche Anklage gegen TeilnehmerInnen oder OrganisatorInnen von Massendemonstrationen zu erheben, in deren Folge Plünderung, Verwüstung oder Brandstiftung stattfinden könnten (man beachte die sprachliche Konditionalform). Zu einem Zeitpunkt, an dem das Gesetz vom Parlament eigentlich bereits verabschiedet worden war, organisierte sich eine Protest-Kampagne im Internet, in der die Leute dazu angeregt wurden, ihren Widerspruch mittels e-Mail gegenüber der Präsidentschaftskanzlei zum Ausdruck zu bringen; in der Folge weigerte sich der Präsident, die Gesetzesnovelle zu veröffentlichen. Dennoch wurde das Gesetz wenige Monate später in leicht modifizierter Form verabschiedet, allerdings ohne jene Inhalte zu verändern, gegen die die Kampagne Schützt die Versammlungsfreiheit! aufgetreten war.

Obwohl die derzeitigen gesetzlichen Änderungen viel mediale Aufmerksamkeit in Estland erzielt haben, stellen sie nur die Spitze eines Eisberges der Repression dar. Der weniger sichtbare Teil dieses Prozesses beinhaltet kontinuierliche Versuche seitens der repressiven Staatsorgane, die entstehenden linken Aktivismen zu beenden. Bereits vor Juni 2009 garantierte die Organisation (vielfach die bloße Teilnahme an) einer Demonstration die Eintrittskarte zu einem inoffiziellen Treffen mit der Sicherheitspolizei, in dessen Rahmen inoffizielle Drohungen ausgesprochen und manchmal ebenso inoffiziell ausgeführt wurden, etwa Einschränkungen von Reisefreiheit und Aufnahme in die Schwarze Liste des Schengener Informationssystems, die Aufkündigung von Stipendien, mahnende Telefonanrufe an Eltern, Schule, Arbeitsplatz etc.

Die Strategien der neuen Linken in Estland
Angesichts der beschriebenen Beispiele lassen sich einige generelle Aussagen über die neue Linke in Estland treffen. Zunächst ist sie buchstäblich sehr neu: Das Auftauchen einer organisierten sozialen Bewegung geht auf das Jahr 2006 zurück, in dem die anarchistische Gruppe PunaMust (RotSchwarz) gegründet wurde. Weitgehend von der Antiglobalisierungs-Bewegung inspiriert, vereinte sie von Anfang an eine Vielfalt linker Positionen und war vornehmlich in der Bewusstseinsbildung im Hinblick auf den globalen anti-kapitalistischen und anti-autoritären Kampf tätig. Teils als Ergebnis interner Konflikte, teils aufgrund der allgemeinen Paranoia-Stimmung wegen der systematischen Verfolgung durch die Geheimpolizei, zerbrach PunaMust im Jahr 2008 in kleinere Gruppen und wurde vor kurzem als Internet-Forum neu organisiert. Die Gruppe Unabhängig Aktiv im Umfeld der A-Bibliothek in Tartu ist eine der tatkräftigsten Initiativen, die sich aus PunaMust entwickelt hat. Auch die Gruppe Kein Polizeistaat! wurde von TeilnehmerInnen des PunaMust-Internetforums in Gang gebracht. Solidaritätsaktionen zugunsten von Antiglobalisierungsdemonstrationen an verschiedenen Schauplätzen weltweit (etwa Anti-G8, Anti-WHO Gipfel etc.) werden manchmal immer noch unter dem Namen PunaMust organisiert. Seit der Neugestaltung von PunaMust besteht die bevorzugte Strategie allerdings in der Bildung von zeitlich begrenzten Interessensgruppen zu bestimmten Themen, mit denen eine breitere Öffentlichkeit angesprochen werden kann. In gewisser Hinsicht scheint diese Strategie äußerst brauchbar, da sie der Dämonisierung durch die Mainstream-Medien entgeht, die begierig jegliche Äußerung von linker Perspektive aus als pro-sowjetisch, neo-stalinistisch, Kreml-hörig etc. abstempeln. Zugleich aber offenbart sich in dieser Strategie eine Reihe von Schwächen, die für die linke Bewegung in Estland typisch sind: Zunächst gibt es einen Mangel an physischen sozialen Räumen – mit Ausnahme der A-Bibliothek und bis zu einem gewissen Grad auch der New World Society in Tallinn –, und die Organisationsarbeit findet fast ausschließlich im Internet statt, was auch bedeutet, dass sie zeitlich und räumlich äußerst fragmentiert ist und mitunter über längere Zeit still steht. Ein weiteres bedeutendes Manko besteht darin, dass die intellektuelle Linke insgesamt wenig organisiert ist. Die aktivistische Kerngruppe, die sich in Initiativen wie PunaMust oder Unabhängig Aktiv engagiert, ist tendenziell sehr jung, vor allem an direkten Aktionen interessiert und diskursiv nicht sehr artikuliert. Daraus folgt, dass der radikale Flügel der linken Bewegung in Estland zwar äußerst geschickt in der Organisation von Solidaritätsaktionen für Proteste sein kann, die anderswo stattfinden, aber häufig daran scheitert, Beziehungen zur lokalen Situation herzustellen. Zugleich weisen aber zeitlich begrenzte Kampagnen wie etwa Kein Polizeistaat! oder Schützt die Versammlungsfreiheit! durchaus auch auf eine wichtige Verschiebung in Richtung einer größeren Aufmerksamkeit auf lokale Gegebenheiten hin.

Parallelen zu Entwicklungen in Litauen
Um den Rahmen des lokalen Kontexts von Estland zu überschreiten, ist es sinnvoll, einige Parallelen zu Entwicklungen in Litauen aufzuzeigen. Obwohl die Formierung verschiedener linker Gruppierungen in Litauen bereits einige Jahre zuvor einsetzte, lässt sich der Beginn einer organisierten sozialen Bewegung mit 2005 datieren. Damals startete das KünstlerInnen-Duo Nomeda & Gediminas Urbonas das Projekt Pro-Test Lab, eine Protestkampagne gegen die Privatisierung des Kinos Lietuva, des letzten verbliebenen öffentlichen Kinos in Vilnius aus der Sowjet-Zeit. Während der letzten Monate des Kinobetriebs wurden verschiedenste Gruppierungen zur Teilnahme an der Kampagne eingeladen, um gemeinsam Fragen nach öffentlichem Raum aus einer kritischen Perspektive heraus zu diskutieren und Protestaktionen gegen die Privatisierung durchzuführen. Es gelang den Protestierenden, das frühere Kartenbüro zu besetzen, das in den folgenden Monaten zum Zentrum für Versammlungen, Parties und Interventionen wurde. Rückblickend wird Pro-Test Lab häufig als bestimmendes Moment für den politischen Aktivismus in Vilnius bezeichnet. Insofern kann man sagen, dass eben die Erfahrung, sich während einer bestimmten Zeit auf einen physischen Ort zu konzentrieren, die Grundlage für eine linke Bewegung in Litauen geschaffen hat, die in der Tat beträchtlich vielfältiger und aktiver ist als in Estland. Ein weiterer Unterschied zur Situation in Estland besteht darin, dass die Mobilisierung rund um Pro-Test Lab von Beginn an neben direkten Aktionen auch theoretische Debatten mit einbezog. Dies führte unter anderem dann auch zur Aktivierung der intellektuellen Linken, die sich jetzt vor allem im Umfeld der 2007 gegründeten Bewegung Die Neue Linke 95 findet.

Beziehungen zwischen aktivistischen Praxen und zeitgenössischer Kunst
Zum Abschluss einige Bemerkungen zu den Beziehungen zwischen aktivistischen Praxen und zeitgenössischer Kunst: Im baltischen Kontext hat insbesondere die Problematik des öffentlichen Raums die ergiebigste Annäherung der beiden Felder hervorgebracht. Etwa zur selben Zeit, als Pro-Test Lab in Vilnius gestartet wurde – d. h. am Höhepunkt des Immobilienbooms –, war der öffentliche Raum auch in Tallinn ein virulentes Thema. Eine der gelungensten kollektiven Aktionen dieser Zeit ist in Zusammenarbeit von Studierenden der Kunstakademie und Fahrrad-AktivistInnen des Prussakov Fahrrad Verein[1] entwickelt worden. An einem Morgen im Frühling 2006 traf sich eine Gruppe zum Picknick am Platz der Freiheit, dem Hauptplatz von Tallinn, der damals als Parkplatz verwendet wurde. Die AktivistInnen kauften sich Parkscheine und parkten Fahrräder und Blumentöpfe. Als um acht Uhr die Büroangestellten einlangten, gab es auf dem fast vollständig belegten Parkplatz kaum mehr Raum für Autos. Der Konflikt zwischen zur Arbeit eilenden AutobesitzerInnen und den Picknickern führte zum Einschreiten der Polizei. Die Picknicker erklärten der Polizei, die Zusammenkunft auf dem Parkplatz sei keine öffentliche Versammlung, sondern ein Normalbetrieb, für den der Parkplatzbesitzer verantwortlich gemacht werden müsse. Zur selben Zeit pflanzte der Bürgermeister von Tallinn Bäume, um das Stadtjubiläum mit einer grünen Tat zu begehen. In gewisser Hinsicht geriet die Intervention erst durch ihre Ausstrahlung in den Abendnachrichten in einen stimmigen Zusammenhang. Durch die Kombination von Protest und ironisch renitenter Gesetzestreue schuf die Picknick-Gruppe ein Instrument für eine erfolgreiche Demonstration an einem dafür eigentlich verbotenen Ort. Angesichts der eingangs behandelten aktuellen Gesetzesänderungen wird darin gerade jetzt eine entscheidende Herausforderung sichtbar.

LINKS
PunaMust
A-Bibliothek
Die Neue Linke 95

ANMERKUNG
Dieser Text ist Teil einer Kulturrisse-Serie über Linke in Osteuropa.

1 Bei dem Prussakov Fahrrad Verein (Prussakovi nimeline jalgrattaühing) handelte es sich um ein informelles Netzwerk von grünen AktivistInnen und um eine der ersten aktivistischen Gruppierungen, die sich allerdings nie offen als links deklariert hat. Die GründerInnen betreiben inzwischen die New World Society (Uue Maailma Selts), ein Gemeindezentrum in Tallinn.

Übersetzung aus dem Englischen: Tom Waibel

Airi Triisbergist Kunstkritikerin und Kulturproduzentin. Sie befasst sich unter anderem mit den Schnittstellen zwischen zeitgenössischen Kunstpraxen und politischem Aktivismus. Sie lebt in Tallinn.

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