Novi Pazar – Serbien – Transition

Es gibt keine stärkere Macht als diejenige, die niemand mehr in Frage stellt. Das, was nicht in Frage gestellt wird, ist das, was naturalisiert wurde.

Von außen gesehen herrscht im Bereich der Herrschaft eine Diffusion: Es ist nicht klar, wer wem wann und welche Befehle erteilt. Trotz aller Undurchsichtigkeit und gerade dadurch, dass diese Diffusion sich so unüberblickbar zeigt, erscheint alles so stark, so unangreifbar, dass es an Schicksal grenzt. Es scheint, dass niemand etwas dagegen machen kann, weil es eben SO ist. Das ist gewissermaßen der Nullpunkt der Schlagkraft der Macht; ein Nullpunkt, der aber auch deren stärksten Punkt markiert. Es gibt keine stärkere Macht als diejenige, die niemand mehr in Frage stellt. Das, was nicht in Frage gestellt wird, ist das, was naturalisiert wurde. Es gehört zur Grundsatzebene, auf der alle Dinge passieren. Es ist die Voraussetzung dessen, was passiert, und wird somit von Individuen und Gruppen als Natur, als Ordnung der Dinge anerkannt. Aber: Am Rande des Kapitalismus zeigt sich seine Brutalität. Der abgehackte Finger von Zoran Bulatovic ist genau so ein Akt der Brutalität wie auch der Bereitschaft zur Gewalt. Mehr noch: Allein Gewalt – und dies nur in ihrer übersteigerten Form als eine gegen sich selbst gerichtete Gewalt – scheint noch ein Echo zu produzieren.

Die Situation

Die Vorgeschichte ist bekannt: Nachdem sie nicht mehr Gewerkschaftsmitglieder sein konnten, weil sie nicht mehr beschäftigt und folglich auch nicht mehr dazu in der Lage waren, ihre Gewerkschaftsbeiträge zu zahlen,, organisierten sich die 1523 ArbeiterInnen, von denen 70 % älter als 50 Jahre sind und 80 % Frauen, in der „Vereinigung der Textilarbeiter von Novi Pazar, Sjenica und Tutin“. Eine Selbstorganisation zwecks Erkämpfung der eigenen Rechte. Eine ihrer Forderungen lautet, die seit ihrer Zwangsbeurlaubung im Jahr 1992 ausstehenden, per Gesetz garantierten Löhne zu bekommen. Der Ort des Geschehens: Novi Pazar, Serbien. 15 km bis zur Grenze zum Kosovo, 40 km bis zur Grenze zu Montenegro. Eine Stadt, die in den Zeiten Jugoslawiens ein blühendes Handels- und Textilzentrum war. Derzeit gibt es keine einzige Fabrik, die noch in Betrieb ist. Das gesamte groß angelegte Industriezentrum der 1960er und 1970er Jahre ist in Konkurs gegangen. Außer der Fabrik, in der einst 4000 ArbeiterInnen ihr Brot verdienten; diejenigen, von denen sich eineinhalbtausend nun organisiert haben. Diejenigen, die mit ihren Aktionen nicht zulassen, dass die Fabrik entwendet wird. Ein Konkurs bedeutet in Serbien derzeit die Auslöschung der Fabrik, weil diejenigen, die sie kaufen, dies wegen des Baulands, auf dem sie steht, tun, und nicht, um sie zur Arbeitstätte zu machen. Außerdem müssen, wenn es zum Konkurs kommt, zuerst der Staat und dann die Gemeinden und schließlich die anderen Gläubiger das ihre bekommen, und erst an vierter Stelle stehen die Forderungen der ArbeiterInnen ... Jedenfalls so, dass, wie in den Gesprächen durchsickert, die ArbeiterInnen in Serbien im Falle eines Konkurses noch nie etwas bekommen haben.

Die arbeitslosen TextilfabrikarbeiterInnen in Novi Pazar verlangen nicht nur die Auszahlung ihrer ausstehenden Löhne, sondern verteidigen auch das, was einmal ihnen gehört hat. Das sind diejenigen, die einmal Selbstverwaltung gekannt haben. Der Staat, dem gegenüber derzeit die ArbeiterInnen in Serbien ihre Forderungen artikulieren, ist ein neoliberaler, rechter Staat. Ein Staat, dessen Parteien in der Opposition genauso von den Reichen bezahlt werden, wie auch die in der Regierung; ein Staat, dessen EntscheidungsträgerInnen – wie Zoran Bulatovic, der Vorsitzende der Vereinigung der TextilarbeiterInnen, betont – „nicht nur lügen, sondern mit Lügen töten“. Und er fügt hinzu, dass die gewaltige Umverteilung des gigantischen kollektiven Eigentums, die nach der vom Westen so gefeierten und auch von vielen Menschen in Serbien positiv aufgefassten „Bulldozerrevolution“ 2000 – die Beseitigung des Milosevic-Regimes – erfolgte, nicht eine „PRIVATIZACIJA“ sondern eine „LOPOVIZACIJA“, nicht eine „Privatisierung“, sondern eine „Diebisierung“ war: „Alle haben gewusst, welche Firma welchem Tycoon für wie viel Geld zufallen wird.“

Der Ort des Kampfes

Es ist der 11. August 2009. Ich bin gerade angekommen in Novi Pazar. Nachdem ich ein Hotelzimmer gefunden habe, spaziere ich zum Gebäude Namens „Jezero“. Dorthin also, wo sich der letzte Höhepunkt des jahrelang andauernden Arbeitskampfes der arbeitslosen TextilarbeiterInnen im April 2009 ereignete. Ich war auf der Suche nach dem Büro der Organisation der TextilarbeiterInnen, deren Vorsitzender Zoran Bulatovic ist und in deren Räumlichkeiten sich der Hungerstreik abgespielt hat. Der letzte in einer Reihe von Hungerstreiks ist in die Öffentlichkeit vorgedrungen, weil Bulatovic sich in einer spektakulären Aktion den kleinen Finger der linken Hand abgeschnitten und vor laufenden TV Kameras gedroht hat, dass jede/r der streikenden ArbeiterInnen dies tun werde, falls die Regierung in Belgrad nicht auf ihre Forderungen eingeht.

Es ist ein heruntergekommenes Gebäude aus den 1970er Jahren. Viele Rechtsanwälte haben dort ihre Büros, es gibt ein Restaurant Namens „Romance“, einen Verkäufer von Autoteilen, einen Supermarkt ... Alles ein wenig trostlos und verlassen. Der Fortschrittsglaube in Jugoslawien war so groß, dass jedes neu entstandene Hochhaus mit einer Eröffnungsfeier und einem eigenen Namen bedacht wurde. „Jezero“ heißt „See“ und sollte damals, in den 1970er Jahren ein Symbol für die Entwicklung der jugoslawischen Gesellschaft sein. Der Ort, den die Arbeiterinnen und Arbeiter für ihren Kampf gewählt haben, symbolisiert einen Versuch, an die vergangene Zeit anzuknüpfen. An die Zeit, in der die ArbeiterInnen – und unter ihnen auch die TextilarbeiterInnen in Novi Pazar – die zentrale symbolische Figur der Gesellschaft waren. Sie waren diejenigen, die dieses und auch die sonstigen Hochhäuser überall in Jugoslawien als Wohnorte für eine bessere „Zukunft für Alle“ aufgebaut und eingerichtet haben. Der Kampfort kann in diesem Fall durchaus als eine symbolische Reminiszenz an eine ganz bestimmte Version der Vergangenheit gesehen werden. Es ist ein Zeichen der Erinnerung an das, was die Sozilogin Zagorka Golubovic (2008: 87) kritisch die „schöne Vergangenheit“ nennt, und gleichzeitig ist es ein Beispiel dafür, wie die Vergangenheit, auch dann, wenn sie idealisiert wird, in jedem politischen Kampf ihren Platz einnehmen muss. Mehr noch, jeder Kampf steht in einer bestimmten Tradition. Derjenige der TextilarbeiterInnen in Novi Pazar steht in der Tradition der jugoslawischen Selbstverwaltung.

Der Durchbruch der Ignoranzmauer

Warum gelangte der Akt des Abschneidens des kleinen Fingers mit einer solchen Schnelligkeit in die Öffentlichkeit? Die ArbeiterInnen in Novi Pazar scheinen hier einen der grundsätzlichen Mechanismen des Funktionierens der Medien erkannt zu haben: Personalisierung – und dies am besten in Verbindung mit „bad news“. Vermittelt wird die schlechte Nachricht, geschrieben wird über eine Person, die am ehesten damit in Verbindung gebracht werden kann. Den RezipientInnen wird die Möglichkeit geboten, sich in die Situation zu versetzen, indem das nicht durchgemacht werden musste. Sie haben zusätzlich noch die Möglichkeit, je nach ideologischer Ausrichtung, sich über die „armen Opfer“ oder die „Barbaren“ zu entrüsten. Der Akt der Selbstverstümmelung, das Fingerabschneiden, bot all das, was der Mainstream so sehnlich sucht, und er bot zusätzlich die Möglichkeit, sich Themen wie der Arbeitslosigkeit und den Unruhen, dem Balkan und dessen Gegenteil, dem Westen, zu widmen. Er bietet für die RezipientInnen die Projektionsmöglichkeit, ohne die die Mainstreammedien in ihrem Profitstreben nicht auskommen können.

Die mediale Strategie der ArbeiterInnen war die, dass die Gruppe sich hinter einer Person versteckte, sodass diese stets mehr war und ist, als nur sie selbst. Sie repräsentiert nicht, sondern ist nur eine der Arbeitenden, die das tut, was zu tun ist; das, was – wie alle gemeinsam vorher entschieden haben – getan gehört. Seine Tat ist nicht die wichtigste, sondern temporär die notwendigste für den Bereich der Öffentlichkeit. Mit diesem Akt wurde die ganze Informationsblockade durchbrochen.

Die neokoloniale Ordnung

Die arbeitenden Menschen, deren Eigentum gerade verscherbelt wurde, sollen möglichst stillschweigend als Teil der Vergangenheit verschoben werden; das „Eigentum der ArbeiterInnen“, weil die Fabriken in Jugoslawien rechtlich den in ihnen Arbeitenden gehörten. Das war das Prinzip der Selbstverwaltung. Darum mussten diese, bevor das Privateigentum eingeführt wurde, zuerst verstaatlicht werden – eine milde gesagt ungewöhnliche Vorgehensweise seitens der Neoliberalen. Erst im zweiten Schritt verzichtete der Staat auf sein Eigentum zugunsten der zukünftigen Besitzer, die das enteignete Eigentum der Arbeitenden für lächerliche Summen kaufen durften. Diese ganz bestimmte Form des Eigentums wurde in der Verfassung verankert. Eben weil nicht jedes Eigentum im Kapitalismus Eigentum ist, sondern nur dasjenige, das zur Vergrößerung des Privatkapitals beiträgt. Wie Marx sagt: „Zur Verwandlung von Geld in Kapital muss der Geldbesitzer den freien Arbeiter auf dem Warenmarkt vorfinden, frei in dem Doppelsinn, dass er als freie Person über seine Arbeitskraft als Ware verfügt, dass er andererseits ... frei ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen.“ (Marx, 1959, 176) Darum müssen die Arbeitenden zuerst enteignet werden. Darum werden derzeit aber auch der Staat und dessen Institutionen seitens der Arbeitenden zur Verantwortung gezogen. Alle Forderungen der Streikenden in Serbien wenden sich an den Staat, dessen Wirtschaftspolitik und kapitalistische Restrukturierung die Arbeitenden in diese Situation gebracht hat.

Die Rolle der Menschenrechte

Während sie als Klasse enteignet und entrechtet wurden, wurden ihnen auch die gesamten Artikulationsmittel entwendet. Die Medien auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawiens gehören derzeit, genauso wie fast alle Banken, den neokolonialen Investitionskartellen im Westen. Der Raubzug wird im Namen von „Demokratie“ und „Menschenrechten“ geführt. Die ArbeiterInnen haben innerhalb dieses Systems keinen Platz. Die Menschenrechte gelten eben nicht für eine Klasse, gelten nicht für diejenigen, die arm sind. Die Menschenrechte gelten, wie das schon in der Deklaration von 1791 stand, für „Menschen und Bürger“. Also für Menschen, die StaatsbürgerInnen der Nation sind. Wobei es nicht so wichtig ist, ob die Angehörigen der nationalen Einheit im Namen der „Menschenrechte“ viktimisiert oder dämonisiert werden: Sowohl das eine als auch das andere liefert die Rechtfertigung für ein Eingreifen zwecks Umstrukturierung. Mit jeder dieser Interventionen verringerte sich der Wert des ehemaligen Eigentums der Arbeiterinnen und Arbeiter. Am Ende konnte dieser von denjenigen, die sich rechtzeitig die richtigen FreundInnen, die richtigen Positionen und auch das richtige Vokabular aneigneten, um fast nichts ersteigert werden. So entstanden die Tycoons.

Mit den gekauften Objekten verschwanden aber nicht diejenigen, die diese bis dahin bewohnt hatten. Auch wenn viele von ihnen desillusioniert sind, sie sind noch da, und sie werden, im Unterschied zum nationalistischen Steigbügelhalter, ökonomisch gebraucht. Denn egal wie ein Staat strukturiert ist, wenn er sich in Richtung Kapitalismus, das heißt der Schaffung von Mehrwert, bewegt – und er muss sich dorthin bewegen, weil es heutzutage keinen kapitalistischen Staat geben kann ohne die Produktion von etwas, das verkauft werden kann – dann werden auch jene gebraucht, die produzieren sollen – die ArbeiterInnen.

Um ihre möglichst flächendeckende Entrechtung und Verarmung ging es in den letzten Jahrzehnten, und auf dem jugoslawischen Gebiet kann genau beobachtet werden, wohin dieser Prozess führen soll: in die totale Abhängigkeit. Aber wie gesagt, die Arbeitenden sind noch immer da, auch wenn es für sie keine Arbeit mehr gibt. Und sie werden, wenn sie sich genug organisiert haben – und gegenwärtig sind sie auf dem besten Weg, das zu tun – durchaus ernste Schwierigkeiten bereiten.

Literatur
Golubovic, Zagorka (2008): „Smisao i znacaj levice u turbulentnoj epohi novog milenijuma: Sa osvrtom na tranziciju u Srbiji“. In: Mladenovic, Ivic / Timotijevic, Milena (Hg.): Sloboda Jednakost Solidarnost Internacionalizam. Izazovi i perspektive savremene levice u Srbiji. Beograd (Cugura print), S. 65-87.
Marx, Karl (1959): Das Kapital Bd.1, Berlin, 176.

Ljubomir Bratić ist Philosoph und Publizist, lebt in Wien.

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