Hüpfende Peronisten . Zur Lateinamerika-Berichterstattung der Neuen Zürcher Zeitung
Das Besondere an der Lateinamerika-Berichterstattung der NZZ ist vor allem zweierlei: Es vergeht erstens kaum ein Tag, an dem nicht über politische Geschehnisse vom Subkontinent berichtet wird. Diese tagespolitische Aufmerksamkeit ist, verglichen mit deutschen oder gar österreichischen Tageszeitungen, einzigartig. Wie aber über Lateinamerika berichtet wird, darin liegt die zweite Besonderheit. Denn die NZZ ist auf erfrischende Weise einem Prinzip verpflichtet, das eigentlich dem Alternativmedienbereich zugerechnet wird: dem Standpunktjournalismus.
Das Besondere an der Lateinamerika-Berichterstattung der NZZ ist vor allem zweierlei: Es vergeht erstens kaum ein Tag, an dem nicht über politische Geschehnisse vom Subkontinent berichtet wird. Diese tagespolitische Aufmerksamkeit ist, verglichen mit deutschen oder gar österreichischen Tageszeitungen, einzigartig. Wie aber über Lateinamerika berichtet wird, darin liegt die zweite Besonderheit. Denn die NZZ ist auf erfrischende Weise einem Prinzip verpflichtet, das eigentlich dem Alternativmedienbereich zugerechnet wird: dem Standpunktjournalismus.
Im Laufe der 1970er Jahre entstanden eine Vielzahl von Zeitungen, Zeitschriften und Radioprojekten, die sich bewusst und offensiv von der Pseudoneutralität der offiziellen bürgerlichen Medien abgrenzten. Im Gegensatz zu diesen sollte eine Berichterstattung gepflegt werden, die ihren Standpunkt nicht verheimlicht, sondern militant vertritt. So auch in der Namensgebung: Die alternative Tageszeitung, das feministische Magazin, die linke Wochenzeitung.
Bei der NZZ ist die Ausrichtung zwar nicht als Untertitel aufgeführt, aber durch den offensichtlichen Bruch mit dem zentralen Gebot aller Journalistik-Grundkurse, das die Vermischung von Artikel und Kommentar strikt untersagt, liest sie sich in Form von impliziten oder expliziten Wertungen anderer politischer Standpunkte relativ schnell heraus. Und das eben insbesondere in der Lateinamerika-Berichterstattung.
Die vermeintlichen Wurzeln allen Übels
Als die „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS) von Evo Morales in Bolivien noch zur Opposition gehörte, hieß es in der NZZ (20.10.2003) anlässlich der abflauenden Proteste gegen die Privatisierung der Gasvorkommen 2003: „Wie in anderen Ländern des Kontinents ist der Begriff ,neoliberal’ auch in Bolivien zu einem rhetorisch missbrauchten Instrument der Opposition geworden, in dem die Bevölkerung die vermeintlichen Wurzeln ihres Übels zu erkennen vermag.“
Die NZZ braucht den Begriff hingegen nicht einmal zu gebrauchen, um deutlich werden zu lassen, dass sie neoliberale Positionen vertritt. Dabei sind die Texte – außer im Feuilleton und wie früher im Spiegel – nicht namentlich gekennzeichnet, was wohl den Eindruck vermeiden soll, es handle sich um subjektive Einzelmeinungen.
In dem besagten Artikel (nicht Kommentar) heißt es über Morales und den anderen indigenen Politiker Felipe Quispe weiter: „Sie setzen sich für eine Verstaatlichung der Erdgasindustrie ein und glauben, dass der Staat mehr an die Armen verteilen könnte, wenn er die Wirtschaft in die Hand nähme. Für diese Art von Populismus bildet der eklatante Mangel an Bildung in weiten Kreisen der Bevölkerung den geeigneten Nährboden.“ Staatliche Intervention ist den Neoliberalen ein Graus. Fordert das jemand, ist er Populist. Und wer einem solchen glaubt, ist eben blöd. Von Indios, könnte man herauslesen, ist ja auch nichts anderes zu erwarten.
Aber nicht nur deren, sondern die Organisierung des Politischen in Lateinamerika überhaupt macht der NZZ Sorgen. Im Hinblick auf das Wahljahr 2006 wurde in der NZZ (22./23.10.2006) die mangelnde Verankerung von Parteien in der Bevölkerung beklagt und die „stete Tendenz, ,Bewegungen’ zu bilden, die alle umfassen sollen, die guten Willens sind, ausser jenen, die als altbekannte Feinde von Anfang an ausgeschieden werden, etwa ,die Oligarchen’.“ Und dieser Mechanismus, statt Partikularinteressen vertretende Parteien solche Bewegungen zu bilden, habe „oft militärische Anfänge oder Untertöne, so bei Chávez in Venezuela, den Peronisten in Argentinien, bei Gutiérrez in Ecuador.“ Genannt sind hier nur als links und zugleich als populistisch geltende Bewegungen bzw. „Führer“.
Damit ist eine Konnotation geschaffen, die sich durch die gesamte Berichterstattung zieht. Dass soziale Bewegungen ein demokratisierender Impuls sein können, ist aus neoliberaler Sicht kaum vorstellbar. Rechte und vor allem neoliberale Populisten, wie beispielsweise Alberto Fujimori in Peru (1990-2000) oder den noch amtierenden mexikanischen Präsidenten Vicente Fox, scheint es nicht zu geben. Und Linke mögen die Neoliberalen natürlich grundsätzlich nicht. Chávez wird in dem Artikel als „Putschist“ bezeichnet, während es zu Kolumbiens rechtsextremen Präsidenten Alvaro Uribe heißt, er sei „von Haus aus ein Liberaler.“ Damit ist zwar seine Herkunft aus der „Liberalen Partei“ gemeint, aber es liest sich natürlich auch als Beschreibung seiner Politik ganz gut.
Wege zur Demokratie
Eine gewisse Grundstimmung gegen Hugo Chávez ist kaum zu überlesen, man könnte sie auch Hass nennen. Jeder Anlass wird genutzt, ihn als Person und seine Politik mit gezielten Spitzen zu diffamieren, als wäre er am Übel des gesamten Kontinents schuld. Vor allem aber am Staatsinterventionismus und am Populismus. Und wenn er sich auch noch in die Angelegenheiten anderer Länder einmischt, wie z.B. bei seiner Unterstützung des linksnationalistischen Präsidentschaftskandidaten in Peru, Ollanta Humala, geht es – aus Sicht der NZZ zum Glück – schief: „Chávez hatte Humala gepriesen und dessen Gegner García beschimpft, mit dem Resultat, dass Humala verlor und García Präsident wurde.“ Über die Eindeutigkeit dieser Beziehung von Ursache und Wirkung weiß natürlich nur die NZZ aufzuklären. Und zwar in einem Artikel (nicht Kommentar) über die Wahlen in Ecuador (nicht Peru) (17.10.2006).
Wie Chávez stünden auch die „Peronisten“ in Argentinien – die in Wirklichkeit gar nicht so eindeutig links und vor allem tief gespalten sind – der Demokratie im Weg. „Ohne eine Überwindung des Peronismus“, heißt es in einem aktuellen Artikel (19.10.2006), „stehen die Chancen schlecht, dass Argentinien je zu einer soliden Republik mutiert.“ Das Republikanische, so viel war auch schon im Jahr zuvor klar, kommt kaum vom Fleck und es herrscht, noch einmal, reiner Populismus – „Chávez in Venezuela, Kirchner in Argentinien“ (22./23.10.2005). Und von den PeronistInnen weiß man ja, dass sie nicht nur militärische „Anfänge oder Untertöne“ haben, sondern auch noch gewerkschaftlich organisiert sind. Neoliberale können GewerkschafterInnen bekanntlich nicht ausstehen.
Als im Oktober 2006 die Leiche des Ex-Präsidenten Perón umgebettet wird, flippen seine Fans, glaubt man der NZZ, förmlich aus. Beim Streit um die besten Plätze kommt es zu Rangeleien, sogar geschossen wird. Aber, heißt es in dem NZZ-Artikel (nicht Kommentar) vom 19.10.2006, „(d)ie politisch manipulierte Polizei stand fernab der Schlägereien; das ist meist so, wenn in Argentinien öffentliche Unordnung herrscht.“ Es wird ja auch, nicht zu vergessen, von einem „Peronisten“ regiert. Bevor aber die politisch manipulierte Polizei fernab stand, kommt es noch zu einem anderen Schauspiel der politischen Wirrköpfe, für dessen Schilderung der unbekannte Autor oder die unbekannte Autorin zu einer wahrlich pulitzerpreisverdächtigen Formulierung ausholt. „Im Mausoleum hüpften Peronisten auf und ab, als feierten sie auf dem Fussballplatz ein Tor.“ Viva la NZZ!
Jens Kastner ist Soziologe und Kunsthistoriker und lebt als freier Autor in Wien.
In Heft 1 / 2006 der Zeitschrift Kulturrisse erschien sein Text „Neoliberaler Standard. Zur Lateinamerika-Berichterstattung in der Tageszeitung Der Standard“