Jenseits eines simplen Verelendungsdiskurses.

Bezahlte Dienstleistungen von Migrantinnen sind vom aktuellen Kontext der Globalisierung von (prekären) Arbeitsverhältnissen stark beeinflusst und großteils Ergebnis der vielfältigen Umgestaltung des Produktionsprozesses in postfordistischen Gesellschaften.

Bezahlte Dienstleistungen von Migrantinnen sind vom aktuellen Kontext der Globalisierung von (prekären) Arbeitsverhältnissen stark beeinflusst und großteils Ergebnis der vielfältigen Umgestaltung des Produktionsprozesses in postfordistischen Gesellschaften (Caixeta / Gutierrez-Rodriguez u.a. 2004): De-Industrialisierung, immaterielle Produktion, Feminisierung der Arbeit, transnationale Migration und die Mobilität von Kapitalinvestitionen.

Mit der Vielfalt prekärer Existenzen nehmen auch Rolle und Anzahl von Migrantinnen in diesem Bereich rasant zu. Bestehende Arbeitsverhältnisse sind dabei überwiegend im Kontinuum „Sex-Fürsorge-Pflegearbeit“ angesiedelt. Prekäre Dienstleistungssektoren wie die Sexindustrie oder der Reinigungsbereich, in denen Migrantinnen besonders stark vertreten sind, dürfen deshalb nicht isoliert betrachtet werden, sondern müssen im Zusammenhang mit einer Reihe weiterer prekarisierter Arbeitsbereiche im informellen Sektor gesehen werden, wie z.B. mit bezahlter Hausarbeit, Kranken- und Altenpflege, Kinderbetreuung, Mini-Jobs im Supermarkt oder in Hotels, Beschäftigung in Call Centern etc. So unterschiedlich diese neuen Arbeitswelt-Identitäten auch sein mögen, der Ausschluss aus dem System der Arbeitsrechte und damit aus deren Schutz ist allen gemeinsam.

Prekarisierung ist mehr als rechtliche, soziale und finanzielle Unsicherheit. Gefordert ist auch die Fähigkeit, sich selbst kreativ zu entwerfen und neue flexible Formen von Kollektivität zu entwickeln. Immer stärker ist dabei die individuelle Lebensqualität vom persönlichen Erfolg am freien Markt abhängig.

Autonomie der Migration

Eine besondere Herausforderung stellen die vorhandenen Widersprüche im Prozess der Prekarisierung dar. Die Unterwerfung unter hyperausbeuterische Verhältnisse befreit nämlich die Betroffenen paradoxerweise aus den rigiden Vorstellungen patriarchal-fordistischer Normalität und eröffnet den prekär Beschäftigten aus Sicht migrantischer und feministischer Theorie und Praxis auch verbesserte Lebensperspektiven.

In der Prekarisierung von Migrantinnen wird dabei deutlich, was als „Autonomie der Migration“ bezeichnet werden kann, einer Art Prekarisierung „von unten“, in die die Wünsche der Einzelnen nach besseren Lebensperspektiven einfließen. So bietet die Unterwerfung unter die vielfältigen prekarisierenden Zwangsverhältnisse zugleich erweiterte Handlungsspielräume. Bereits das Ausbrechen aus elenden ökonomischen Verhältnissen und patriarchalen Strukturen im Herkunftsland und der Schritt in die Lohnarbeit im Ausland kann eine erste Erfahrung von Selbstermächtigung sein. Selbst in Ausbeutungsstrukturen finden sich dabei Momente, die zum Ausgangspunkt von Widerständigkeit werden können.
Ob und wie wir beschreiben, wie sich Betroffene beim Verkauf von sexuellen Dienstleistungen in der Sexindustrie, beim Putzen für Reinigungsfirmen oder in Privathaushalten etc. ein Lebensverhältnis schaffen konnten, das auch ihren eigenen Interessen entspricht, und welche „sexuelle oder putzende Mehrarbeit“ diese beständig aufwenden müssen, um sich den üblichen Zuschreibungen zu widersetzen, ist demnach auch eine Frage der politischen Strategie (Caixeta 2005).

Entscheidend für diese Strategie sind dabei Antworten auf die Frage, wie die bestehenden und zu entdeckenden Widersprüchlichkeiten jenseits eines simplen Verelendungsdiskurses begriffen werden können, der die Subjektivität und Eigenaktivität der Einzelnen in der Prekarisierung unsichtbar werden lässt. Die flexible Gestaltung der alltäglichen Reproduktion etwa ist dabei nicht nur als Folge neuer ökonomischer Zwänge zu bewerten. Entscheidend ist jedoch, inwiefern das Aufbegehren gegen patriarchal-fordistische Normalitäten und die Suche nach alternativen Lebensweisen eine Bedingung für die Durchsetzung neuer Arbeits- und Produktionsverhältnisse darstellen und wie sie in kollektive Strategien überführt werden können. Hinterfragt und reorganisiert werden müssen auch neue Formen der Arbeit und Arbeitsteilung, die die Grundlagen für transnationale Verteilung und dabei auch neue Spaltungen schaffen.

Ein Blick auf die konkreten Tätigkeiten illustriert die Tendenzen widersprüchlicher Verknüpfung von einerseits verstärkter Unterwerfung[1] und andererseits erweiterter Autonomie: So werden die einzelnen Beschäftigten oder Teams im Reinigungsgewerbe z.B. die Säuberung ganzer Objekte überantwortet, die Arbeit wird eigenverantwortlich organisiert, der Chef ist meist nicht vor Ort. Ganz ähnlich sind Arbeitsverhältnisse in Privathaushalten geregelt, die meist (wenn auch nicht immer) in Zeiten gereinigt werden, in denen die AuftraggeberInnen außer Haus sind. In der Sexbranche verdienen Migrantinnen das meiste Geld, können ihre Tätigkeit als Nebenjob ausüben, müssen meist keine Ausbildung vorweisen, haben keine vertragliche Bindung und die Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen, eine Fremdsprache zu üben, usw.

Nichtsdestotrotz bleibt der Kampf um die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen von migrierten Sex- und Hausarbeiterinnen – wie auch für Migrantinnen in anderen prekären Dienstleistungsverhältnissen – notwendig. Dabei gilt es vor allem einer Anti-Prostitutions- und Anti-Migrationspolitik entgegenzutreten, die vor allem auf die Rechte von in der Sexarbeit tätigen Migrantinnen negative Auswirkungen hat. Die meist moralistisch begründete Verweigerung der Anerkennung von Sex- und Hausarbeit als mit Rechten ausgestatteter, stark ethnisierter Arbeit verringert die Zahl der MigrantInnen in diesem Sektor nicht, sie ignoriert lediglich die Realität vieler Frauen (und Männer). Repressive politische Regelungen in Bezug auf Migration, öffentliche Ordnung und Moral führen zu einer verstärkten Verwundbarkeit der Dienstleisterinnen und zu negativen Konsequenzen für deren Gesundheit und Sicherheit.

Um nicht in partikularen Lösungen stecken zu bleiben, bedarf es also der Entwicklung übergreifender politisch-ethischer Positionen, die als Grundlage für jene Kämpfe dienen können, die die hegemoniale gesellschaftliche Ordnung in Frage stellen und dekonstruieren. Die (Selbst-)Organisation der Betroffenen ist dabei unverzichtbar.

maiz: Erfahrungen einer Migrantinnen(Selbst-)Organisation

Seit über 10 Jahren ist maiz als Selbstorganisation von und für Migrantinnen aktiv. Migrantinnen, die sich an maiz wenden, arbeiten als Reinigungskräfte für Leasingfirmen, als Putz- und Pflegekräfte in Privathaushalten, als Pflegehelferinnen im Gesundheitsbereich, und/oder sind in der Sexindustrie tätig. Ihre konkrete Situation ist nicht nur durch rechtliche Regulierungen bestimmt. Vielmehr sind auch diskursive und wirtschaftliche Faktoren für ihre konkreten Lebensverhältnisse entscheidend.

maiz zeichnet sich dadurch aus, dass wir als Migrantinnen-Selbsorganisation versuchen, auf all diesen Ebenen in gesellschaftliche Auseinandersetzungen einzugreifen. So gehören neben Beratungs- und Bildungsarbeit auch politische Kulturarbeit und künstlerische Projekte zu unseren Tätigkeitsfeldern, in denen sich Migrantinnen zunächst über ihre jeweiligen Lebenssituationen und Einschränkungen ihrer Handlungsfähigkeit austauschen, um dann in einem kollektiven Prozess zu erarbeiten, wie man diese Erfahrungen der österreichischen Mehrheitsbevölkerung präsentieren bzw. diese damit konfrontieren kann. Auf diese Weise sollen Migrantinnen die Möglichkeiten erhalten, aus ihrem Status als Objekt, über das politisch verhandelt wird, herauszutreten und eigene Artikulationsformen zu entwickeln, um in hegemoniale Diskurse einzugreifen und diese zu verschieben.

Im Sinne des Sichtbarwerdens will maiz auch provozieren, mit den tradierten Repräsentationsstrukturen brechen und eine „Störung der Harmonie“ bewirken, z.B. nach dem Motto: „Austria we love you! Wir werden dich nie verlassen!“

Auf dem Weg zur kollektiven Organisierung im Sinne einer Verbesserung der wirtschaftlichen Situation von Migrantinnen treten dabei erneut Widersprüche auf, diesmal zwischen den Interessen der einzelnen Migrantinnen und der allgemeinen Zielsetzung, bessere Arbeitsbedingungen zu erreichen. So kommen Migrantinnen im Regelfall nach Österreich, um – egal mit welcher Tätigkeit – möglichst schnell viel Geld zu verdienen. Konsequenterweise haben sie deshalb zunächst kein Interesse, sich kollektiv zu organisieren. Da sie sich mit ihrer Tätigkeit etwa als Haus- oder als Sexarbeiterin nicht identifizieren, sondern diese als vorübergehenden Zustand betrachten, lohnt es sich nicht, für kollektive Verbesserungen zu streiten. Hier gilt es deshalb, Zusammenhänge zwischen der individuellen Situation, in der Migrantinnen ihre jeweiligen Träume nicht verwirklichen können, und der Regulierung bestimmter Arbeitsbereiche deutlich zu machen.

Zu den wichtigen Tätigkeitsfeldern von maiz gehört deshalb auch die Auseinandersetzung mit und unter Migrantinnen selbst, etwa wenn diejenigen, die bereits in Österreich leben, sich gegen die Einwanderung von anderen wenden, weil dies verstärkte Konkurrenz bedeutet.

Im Spannungsfeld aller vorhandenen Widersprüche bemüht sich maiz, Raum für eine kollektive Organisation verschiedener Migrantinnengruppen und deren Interessen nach innen zu fördern (hier werden die Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen prekären Arbeits- und Lebensbedingungen hervorgehoben und nicht das Gegenteil) und nach außen zu fordern.

1 Ein Faktor, der die Prekarisierung von Sexarbeit im Besonderen fördert, ist ihr sozialer Status. Sexarbeit ist in den meisten Gesellschaften ein stigmatisierter Bereich. Migrantinnen (in Österreich ca. 90% der Sexarbeiterinnen) werden mehrfach, als Ausländerinnen und als Prostituierte, ausgegrenzt und stigmatisiert.

Literatur

Caixeta, L. / Gutierrez-Rodriguez, E. u.a. (2004): Haushalt, Caretaking, Grenzen… Rechte von Migrantinnen und Vereinbarkeit von Beruf und Familie

Caixeta, L. (2005): „Precarius labor et stuprum corporis. Prekarität und die bezahlte sexuelle Dienstleistung“. In: Kulturrisse 02/05, S. 22 f.

Luzenir Caixeta arbeitet seit mehr als 10 Jahren bei maiz, u.a. mit Migrantinnen in der Sexarbeit.

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