Fluchtlinien eines politischen Projekts in der Prekarisierung. Eine eklektische Aneignung des gewerkschaftlichen "Organizing"

Wer in Ken Loach's Film Bread and Roses gesehen hat, wie die Janitors (ArbeiterInnen im Reinigungsgewerbe), überwiegend MigrantInnen aus Mittelamerika, sich organisierten, wie sie voller Power eine Krankenversicherung für sich und ihre Familien durchsetzten und somit den Kampf um gewerkschaftliche Rechte gewonnen haben, ist mit Sicherheit berührt und neugierig, mehr über Organizing zu erfahren. Der Erfolg dieses US-amerikanischen Kampagnen-Modells beruht auf der rapide wachsenden Mitgliederwerbung „von unten“, in der „Organisierung der Unorganisierbaren“.

Service- vs. Organizing-Modelle gewerkschaftlicher Arbeit

Wer in Ken Loach's Film Bread and Roses gesehen hat, wie die Janitors (ArbeiterInnen im Reinigungsgewerbe), überwiegend MigrantInnen aus Mittelamerika, sich organisierten, wie sie voller Power eine Krankenversicherung für sich und ihre Familien durchsetzten und somit den Kampf um gewerkschaftliche Rechte gewonnen haben, ist mit Sicherheit berührt und neugierig, mehr über Organizing zu erfahren. Der Erfolg dieses US-amerikanischen Kampagnen-Modells beruht auf der rapide wachsenden Mitgliederwerbung „von unten“, in der „Organisierung der Unorganisierbaren“. Im Gegensatz zum gewerkschaftlichen Service-Modell, das sich letztlich auf Rechtsberatung und VertreterInnenpolitik konzentriert, baut Organizing – unter dem Motto „die Beschäftigten bilden selber die Gewerkschaft“ – auf einer breitbandigen Strategie auf.

Die Hauptarbeit besteht in der Organisierung der Beschäftigten innerhalb einer öffentlichen Kampagne. In dieser gilt es zunächst, Konflikte zu identifizieren und Ziele innerhalb eines zeitlich begrenzten Rahmens zu setzen. Eine Analyse der Schwächen und Stärken sowohl der Gewerkschaften als auch der ArbeitgeberInnen trägt dazu bei, ein öffentlichkeitswirksames Thema für die Kampagne zu wählen. Die Recherche der jeweiligen Branche, vor allem der Beziehungsstrukturen der Personen, Gruppen und Organisationen, die mit den jeweiligen ArbeitgeberInnen zu tun haben, sind hierbei unentbehrlich und erlangen strategische Wichtigkeit im Laufe der Kampagne. Spätestens wenn der Gang in die Öffentlichkeit ansteht, bedarf es eines Plans über den effektiven Einsatz der Medien. Bundesweite Kampagnen werden stärker, je besser sie lokal verankert sind. So zeigt das „Community Organizing“ oder die Suche nach Verbündeten in der Bildung eines sozialen Netzwerks vor allem seine Wirkung in der Eskalationsphase, in der gesellschaftliche AkteurInnen als Sprachrohre fungieren oder in Krisensituationen für Beschäftigte Schutzfunktionen als PatInnen übernehmen können.

Von der Theorie in die Praxis: Organizing bei ver.di Hamburg

Auch in Hamburg wird zur Zeit bei der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) im Fachbereich für Besondere Dienstleistungen der Organizing-Ansatz im Wach- und Sicherheitsgewerbe eingesetzt. Trotz eines viel zu kurzen Zeitplans, lokalen Herausforderungen und der schwierigen Übersetzungsarbeit des Modells auf deutsche/europäische Verhältnisse, ist es in dem Pilot-Projekt gelungen, Beziehungen und Kapazitäten unter den Sicherheitskräften aufzubauen: Die OrganizerInnen rufen Gewerkschaftsmitglieder an, die zerstreut über die ganze Stadt in Banken, Versicherungen, Fußballstadien, der Bahn oder im Einzelhandel als Sicherheitskräfte tätig sind, um einen konkreten Einblick in diese Branche zu bekommen und ein Treffen mit ihnen zu arrangieren. Sie kontaktieren Kunden-Betriebsräte und bitten um ihre Unterstützung. Vor allem aber laufen sie durch die ganze Stadt und suchen die Beschäftigten vor Ort auf.

Sie treffen meist auf isolierte, verängstigte und resignierte Arbeitskräfte, die um ihren Arbeitsplatz bangen. Oft findet sich jedoch ein Weg, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Nach dem Motto „Get their story! Explore how they feel“ erforschen die OrganizerInnen in strukturierten „one to one“-Gesprächen die konkreten Arbeitsbedingungen und Probleme vor Ort, sowie die Rolle des/der Beschäftigten, die er/sie in dem Job und bei den KollegInnen hat. Mit Fragen versuchen sie die Beschäftigten über die Konflikte zum Nachdenken anzuregen und nach Möglichkeiten der Veränderung zu suchen. Doch mit einem Treffen ist es nicht getan: Wiederholt treffen die OrganizerInnen die Beschäftigten und informieren sie über den Stand der Kampagne.

Nach einigen Monaten findet das erste „Organizing Committee“-Treffen statt, das den Kontakt zwischen den Beschäftigten herstellt. Trotz der hohen Stundenzahl von ca. 180-200 Stunden, die die Sicherheitskräfte im Monat zu arbeiten haben, um bei einem Niedriglohn von mittlerweile 6,40 Euro über die Runden zu kommen, setzt sich diese Sicherheitsfirmen-übergreifende kollektive Struktur der „Aktiven-Treffen“ im zweiwöchigen Rhythmus fort, bei reger Beteiligung der Beschäftigten. Zahlreich erscheinen sie sogar zur ersten Pressekonferenz von ver.di und schildern selbst ihre unsichtbaren Dienstleistungen sowie die verheerenden Bedingungen, unter denen diese stattfinden. In weiteren Aktionen in der Stadt geben sie ihren Forderungen nach höheren Löhnen und mehr Respekt für ihre Arbeit Ausdruck. Inzwischen lassen sie sich trainieren, um die Mindestlohn-Kampagne selber tragen zu können, schließlich gilt es weiterhin den „Plan to win“ zu verfolgen, auch wenn ver.di nach Ablauf der verlängerten Projekt-Frist erst mal nicht die bisherigen Ressourcen zur Verfügung stellt.

Ideen der Organizing-Kampagne in der politischen Arbeit sozialer Netzwerke

Während meiner Mitarbeit im Hamburger Organizing-Projekt grübelte ich oft darüber, wie dieses Wissen transferiert werden und in die Suche nach einem kontinuierlichen Arbeitsgefüge im Euromayday einfließen kann. Nach den geplanten sechs Monaten wurde eine Verlängerung des Projekts durchgesetzt, doch ich entschied mich, nicht weiter bei dem gewerkschaftlichen Organizing mitzuarbeiten. Die Position des Interface re-formulierte sich nun in meinem Wunsch, Ideen der Organizing-Kampagne in die politische Arbeit sozialer Netzwerke zu übertragen.

Die Maschine der selbst-kontrollierten, selbstorganisierten Erfindung der Entrepreneure und Enterployees läuft allerdings weiter. Und du wirst oft genug zurückgeworfen auf eine Materialität von Körperlichkeit, zerrissen in der „Schwebelage“ (Dörre 2005) zwischen dem Akt, dich nach dem neoliberalen Leitbild der „Selbstaktivierung“ und „Eigenverantwortung“ zu mobilisieren und der Forderung, dich nach dem Imperativ des „lebenslangen Lernens“ anzustrengen, um einem dauerhaft drohenden sozialen Abstieg zu entgehen. Gerade dort bedarf es der Schnittstellen von Kommunikations-Plateaus, die neue Wege eröffnen für prekäre Existenzweisen, jenseits der elenden Verwaltung der 1-Euro-Jobs und der Schikanen im Leben mit Harz IV. Schließlich konstituiert sich der Euromayday durch das Begehren, gegen eine Verengung des Prekarisierungs-Begriffs auf fordistische (Lohn)Arbeit anzutreten.

In der gegenwärtigen Transformation der kapitalistischen Wirtschaft wird „Wissen zur Hauptressource und damit auch zum wichtigsten Ort des Inwertsetzungsprozesses. (...) Es kommt nun hauptsächlich darauf an, technisches Wissen zu verwalten, die Entwicklung von Lernprozessen zu sichern, neues Wissen zu kreieren und sich den Zugang zu außerhalb verfügbarem Wissen zu verschaffen (...), weit verzweigte Kommunikationssysteme einzurichten“ (Moulier-Boutang 2003: 255f). Diese Produktion von Wissen durchquert jedoch die individualisierten Körper in ihren vielfältig geschalteten Begehren und Blockaden. Wie kann unter diesen Bedingungen ein biopolitischer Streik gedacht werden, wenn alles produktiv wird und das Kapital nun auf das ganze Leben zugreift? Wie können sich konkret prekäre WissensarbeiterInnen organisieren, die ihre Arbeitsorte wechseln oder sich in ihrem Home-Office eingerichtet haben, sich mit befristeten Werkverträgen rumschlagen und keine Rechte auf soziale Absicherung haben?

Die Frage nach einem „guten Leben“ im postfordistischen Alltag

Ein zentraler Grundsatz im Organizing besagt, wo kein Konflikt ist, kann auch nicht organisiert werden. Für mobile und flexible WissensarbeiterInnen hören allerdings der Betrieb und der Arbeitsplatz auf, maßgeblicher Ort des Hauptkonflikts zu sein. Die Front verläuft eher dort, „wo Information, Sprache, Lebensweise, Geschmack und Moden durch Kapital, Handel, Staat oder Medien erzeugt und gestaltet werden. Anders gesagt, überall dort, wo die Subjektivität (...) fabriziert und geformt“ wird (Gorz 2000: 62). „Seid Subjekte, kommuniziert, bringt eure Kreativität ein, kooperiert!“, heißt der Ordnungsruf, aber wie findet das genau statt? Das Kommando des Kapitals schreibt sich in Prozesse der Subjektivierung ein, doch wie setzen sich die Individuen zu den programmatischen Anrufungen und zu ihren Bedingungen ins Verhältnis?

Subjektivitäten spiegeln nicht die Arbeitsbedingungen der „immateriellen Arbeit“ wider. Subjektivität wird produziert, „wenn das gegenwärtige Regime der Arbeit verkörperte Erfahrung wird“ (Tsianos/Papadopoulos 2006). Prekarisierung bedeutet nicht die Ausbeutung der Arbeitskraft. Sie ist die Anordnung, in der Formen der Ausbeutung sich auf die Kontinuität des Alltags beziehen. Ein prekärer Alltag, in dem du gefordert bist, mit der Angst umzugehen ohne in Furcht zu erstarren. Keine Zeit haben, hinter der Zeit her zu rennen, sich in einer Zeitlichkeit der Gegenwart zu bewegen ohne planbare Zukunft. Nicht in den vielseitigen Abhängigkeiten ersticken und sich in die multiplen Intensitäten einspeisen. An der Schwelle der affektiven Erschöpfung Rast finden. In der Flexibilität der hohen Verwundbarkeit einen Schutz organisieren. Mit begrenzten, kaum vorhanden Ressourcen im Voraus Neues kreieren und sich selber sabotieren?

An dieser Stelle gilt es jedoch, den Eifer nach herkömmlichen Widerstands-Vorstellungen zu entschleunigen. Inne zu halten und sich der immanenten Verstrickung des Willens zur Macht im veränderten Raum-Zeit-Verhältnis zu stellen. Mitten drin in der Kleinschen Flasche, die Visualisierung der geometrischen Figur mit einer Fläche, die sowohl Innen wie Außen gleichzeitig ist. Wie in dieser Oberfläche Fluchtlinien markieren, die die Dynamisierung eines rhizomatischen Raums der Politisierung ermöglichen? Michel de Certeau definiert Raum als den Ort, mit dem man etwas macht, „als ein Geflecht von beweglichen Elementen“, der entsteht, „wenn man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt“. Eine Anregung, die uns in der Vereinigung von Strömen mitreißt, die der Frage nach einem „guten Leben“ im postfordistischen Alltag folgen.

Literatur

Dörre, Klaus (2005): „Entsicherte Arbeitsgesellschaft. Politik der Entprekarisierung“. In: Widerspruch 49, 5-18

Gorz, André (2000): Arbeit zwischen Misere und Utopie. Frankfurt

Moulier-Boutang, Yann (2003): „Neue Grenzziehungen in der politischen Ökonomie“. In: von Osten, Marion (Hg.): Norm der Abweichung. Zürich/Wien/New York, 243-250

Tsianos,Vassilis/Papadopoulos, Dimitris (2006): „Prekarität: eine wilde Reise ins Herz des verkörperten Kapitalismus. Oder wer hat Angst vor der immateriellen Arbeit?“ zum Artikel

Efthimia Panagiotidis ist Soziologin. Sie lebt in Hamburg und arbeitet zu Prekarisierung und Mobilität im Postfordismus. Sie ist aktiv beim Euromayday und dem antirassistischen Netzwerk Kanak Attak.

 

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