Wir graben den Schacht am Karlsplatz. Wiens Kulturpolitik braucht einen inversen Turm

Der Karlsplatz ist einer der wichtigsten und zentralsten Verkehrsknotenpunkte von Wien, gleichzeitig ein Ort der Disparitäten, der Unübersichtlichkeit, der Un-Ordnung. Er sperrt sich gegen das Beschreiten seiner Oberfläche, die wesentlich aus vielspurigen Fahrbahnen und verschieden großen Inseln zwischen diesen Straßen besteht, unter dieser Oberfläche ein typisch transitorischer Stadt-Raum, ein Knoten mehrerer Linien der U-Bahn, die einen riesigen Strom von täglich unter ihm durchziehenden Werktätigen und TouristInnen erzeugt. Klar, dass solche Bedingungen nicht unbedingt den planerischen Idealen der Wiener Stadtverwaltung entsprechen

"Das Wichtigste wird vielleicht sein, leere Zwischenräume der Nicht-Kommunikation zu schaffen, störende Unterbrechungen, um der Kontrolle zu entgehen." (Gilles Deleuze)


Der Karlsplatz ist einer der wichtigsten und zentralsten Verkehrsknotenpunkte von Wien, gleichzeitig ein Ort der Disparitäten, der Unübersichtlichkeit, der Un-Ordnung. Er sperrt sich gegen das Beschreiten seiner Oberfläche, die wesentlich aus vielspurigen Fahrbahnen und verschieden großen Inseln zwischen diesen Straßen besteht, unter dieser Oberfläche ein typisch transitorischer Stadt-Raum, ein Knoten mehrerer Linien der U-Bahn, die einen riesigen Strom von täglich unter ihm durchziehenden Werktätigen und TouristInnen erzeugt. Klar, dass solche Bedingungen nicht unbedingt den planerischen Idealen der Wiener Stadtverwaltung entsprechen. Da ArchitektInnen, StadtplanerInnen und Raumordnungsbeauftragte in den letzten Jahren keine halbwegs billigen Ideen zur Beseitigung der Diffusität und vorgeblichen Hässlichkeit des Platzes vorgelegt haben, scheint die Stadt Wien nun auf die Kunst gekommen zu sein. Bürgermeister Häupl schwärmt seit neuestem davon, aus dem "derzeit unattraktiven Platz" einen "Kunstplatz Karlsplatz" zu machen, der "neu gestaltet werden und zum Flanieren einladen" soll, und beschwört zu diesem Zweck die synergetische Bündelung der schon jetzt am und rund um den Karlsplatz angesiedelten Kulturinstitutionen (Historisches Museum, Künstlerhaus, Kunsthalle, Musikverein, Technische Universität).

Bei solch hochrangigem politischen Interesse steht - fürs erste ganz allgemein und abstrahiert von den spezifischen Qualitäten des Karlsplatzes - zu befürchten:

1. eine Politik der Behübschung eines Ortes, der nichts weniger brauchen kann als die Umarmung des klassischen Kulturbetriebs. Alles Uneinheitliche läuft Gefahr, wie in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts als hässlich denunziert und von Vereinheitlichung und Übersichtlichkeitswahn bedroht zu werden. Wo anderenorts die Kolonisierung von Bezirken und Quartieren durch Kunst wildwuchernde Gentrification nach sich zieht, wird sie im Rahmen solch naiver Stadtplanungsvorhaben eher in der alten Rolle als Oberflächengestaltung oder alternatives Leitsystem funktionalisiert.

2. die Instrumentalisierung von Kunst als Katalysatorin in einem Prozess, in dem immer mehr bourgeoise Minderheit den Platz überschwemmt und damit nicht nur räumlich, sondern auch sozial vereinheitlicht. Hier wird Kunstproduktion als kommunikativer Prozess vermarktet, meint jedoch wenig verdeckt ein Gleitmittel für die reibungslose durchführung des Unterhaltungsprogramms, oder noch prosaischer: Partygestaltung und Gastronomie. Kunstinstitutionen werden in diesem Zusammenhang zu nebenbei geduldeten Randerscheinungen ihrer eigenen Cafés, Buchhandlungen und Merchandising-Shops.

3. die Verdrängung der marginalen Gruppen, die den Karlsplatz bis jetzt als Treffpunkt nutzen, vor allem Menschen, die von den Behörden als Drogengebrauchende, Alkoholkranke und Obdachlose identifiziert werden. Dies bedeutet die Fortsetzung und Vollendung der komplementären Strategien von Privatisierung, Vertreibung und kontrollgesellschaftlichem Kommando.

So wurde die unterirdische Fußgängerpassage des Karlsplatzes schon in den vergangenen Jahrzehnten zusehends verbaut und geglättet, schließlich auch die zuletzt noch übrig bleibende Fläche durch den wenig dezenten Einsatz von "Hochkultur" für ihre NutzerInnen zusehends unnutzbar gemacht: Wo sich der untergrundige Bauch des Karlsplatzes ins Freie öffnet, ertönt aus den dort von der Verwaltung angebrachten, billigen Lautsprechern - ähnlich wie übrigens auch am Hamburger Hauptbahnhof - Mozart und ähnliches. Nicht unbedingt die Lieblingsmusik von Leuten, die sich als Outlaws verstehen.

Gegen derartige Tendenzen der Instrumentalisierung von Kunst für expandierende Kontrollregimes muss überall dort, wo wieder ein Stück Öffentlichkeit der Enteignung anheimfällt, diese Enteignung "ver-öffentlicht" werden. Veröffentlichen heißt in diesem Zusammenhang zweierlei: einerseits das Aufdecken, Stören und Durchkreuzen dieser neoliberalen Strategie der permanenten Enteignung, andererseits das Herstellen von Öffentlichkeit an eben den Plätzen, die von Enteignung bedroht sind.

Strategien der Wiederaneignung

Früher waren die Fronten klarer. In direkter Kommunikation mit den verantwortlichen PolitikerInnen oder - weniger direkt - über möglichst reichweitenstarke Mainstream-Medien setzten vor allem Intellektuelle und Kulturschaffende ihr symbolisches Kapital ein und mutierten für kurze Zeit vom bourgeois zum citoyen - oder auch zur Bürgerinitiative. So geschehen im kulturpolitisch-stadtplanerischen Kontext schon um 1990, als sich eine ultrakonservative Bürgerinitiative gegen den damaligen Entwurf des Museumsquartiers quer legte und den Denkmalschutz mithilfe von "Kronen-Zeitung"-Kampagnen und FPÖ-Volksbefragungen als wesentliches kulturpolitisches und stadtplanerisches Kriterium etablierte.

Möglicherweise in Anspielung auf diese berüchtigte Bürgerinitiative engagiert sich die Bürgerinitiative Öffnet den Karlsplatz seit Anfang 2003 für einen Karlsplatz als "Platz der Offenen Kulturen". Auch wenn deren Programm sich wie die misslungene Werbung für einen mittelmäßigen Haushaltsreiniger liest, das Interesse am bisher nur intern in PolitikerInnen- und Beamtenrunden verhandelte Thema stieg plötzlich durch das Auftauchen der Bürgerinitiative. "Der Standard" widmete der Karlsplatz-Initiative gleich im Jänner 2003 einen ausführlichen Bericht, in der Redakteur Thomas Rottenberg auch die Bemerkungen eines Initiativen-Proponenten mit Namen Karl Latz zitiert: der Raum solle "nicht nur musealen Formen" der Kunstaufbewahrung in den Museen an seinen Rändern dienen, "die angedachte Neugestaltung am Platz stellt eine historische Chance dar." Diesem Bericht folgte ein "Kommentar der Anderen" in derselben Zeitung, in dem KritikerInnen der Bürgerinitiative ihre verwaschene Begrifflichkeit vorwarfen, Schlagwörter und Worthülsen wie "Platz für Offene Kulturen als demokratische Wegbereiter" würden kraft ihrer Beliebigkeit wahllos von allen politischen Seiten aufgegriffen und für ihre Zwecke verwendet werden können. Danach, anlässlich einer Veranstaltung zum "Kunstplatz Karlsplatz" im Wiener Depot, tauchten erste Zweifel auf an der Echtheit der Bürgerinitative. Und zwar aus der Feder desselben Standard-Redakteurs, der für den ersten Bericht verantwortlich gezeichnet und darin eben denselben Karl Latz interviewt hatte, dessen Existenz im "Standard" schließlich auch noch in Abrede gestellt werden sollte: "Ihre Bürgerinitiative ist so real wie jene 'Gründer', die auf ihrer Homepage www.verkehrshoelle.at aufscheinen. Keine dieser Personen existiert."

Sollte diese Behauptung diesmal richtig recherchiert sein, wären wir damit auch schon bei einer zeitgemäßen Spielart gegen die Enteignung des öffentlichen Raums angelangt: Die subversive Praxis der Kommunikationsguerilla ist der Versuch, durch Fakes, Mediensabotage und andere Tricks Kommunikationsflüsse zu unterbrechen, zu stören, um damit Diskurse an die Oberfläche zu bringen, die vorher nicht sichtbar waren. Oder vorhandene Diskurse zu verschieben: Eine "Bürgerinitiative" schafft es, einen Diskurs zu verunsichern und zu stören, eine Bresche zu schlagen, einen - wie Deleuze es nennt - "leeren Zwischenraum der Nichtkommunikation" zu schaffen. Und zugleich wird mit diesem destruktiven Akt aber auch die Möglichkeit erzeugt, die entstandene diskursive Lücke zu nützen für die Thematisierung von verdrängten - oder besser: unter Ausschluss der relevanten Öffentlichkeiten verhandelten - Themen, in unserem Fall dem der Zukunft des Karlsplatzes.

Parallel zu solchen Methoden, die eher Virtuelles, Diskurse und Medien als Zielscheiben betrachten, zeigen sich in urbanen Kontexten vermehrt Praxen der aktivistischen Wiederaneignung der Stadt: mit historischen Backgrounds in den situationistischen Dérives vor allem im Frankreich der 60er, über die deutschen Häuserkämpfe der 70er und 80er, die englische Reclaim the Streets-Bewegung der 90er bis zu den aktuellen Praktiken im Kontext der Bewegung gegen die ökonomische Globalisierung. Deren Aktivitäten sind nicht nur Ausdruck des Protests, sie wehren sich nicht nur gegen Repressionen, Sozialabbau und die beschriebenen Enteignungsprozesse von Öffentlichkeit, sondern sie besetzen zugleich auch offensiv städtische Räume. Widerstand und konstituierende Macht verschränken sich in einer Form, die auch die Inkommensurabilität von radikaler Kritik des Bestehenden und produktiven Experimenten an neuen Formen der Selbstorganisation tendenziell auflöst.

In Wien ist unter anderen auch Public Netbase t0 eine Homebase für alle möglichen Projekte zwischen Medienguerilla und Aktivismus. Vor dieser Folie darf es nicht weiter verwundern, dass die Netzkultur-Institution den nichtssagenden Slogan der Bürgerinitiative aufnimmt und gerade am Karlsplatz eine Veranstaltung namens Open Cultures organisiert. Und die große Sound-Demo Free Re Public 03 findet wohl auch nicht ganz zufällig heuer am Karlsplatz statt.

Solche Politik der Besetzung des realen Raums Karlsplatz ist nicht ganz uneigennützig. Public Netbase ist eine von mehreren AgentInnen aus dem kulturellen Feld, die dem kunterbunten Treiben der Kunst-Platzhirsche um den "Kunstplatz Karlsplatz" eine Konstruktion von kritischer Öffentlichkeit beigesellen wollen. Jenseits von Slogans wie "Unort" und "Verkehrshölle", jenseits der stadtplanerisch-kontrollgesellschaftlichen Phantasmen sozialer Bereinigung und räumlicher Durchsichtigkeit, jenseits der billigen Instrumentalisierung von Kunstinstitutionen für diese Strategien soll hier ein Ort entstehen, der tief in die Welt hineinragt.

Der inverse Turm

"Wir graben den Schacht in der Abenddämmerung
Wir graben den Schacht von Babel
Zu hoch war bis jetzt unser Aussichtspunkt
Wir graben den Schacht von Babel
Mit Hölzern, sehr edel, verschalen wir ihn
Wir schachten den Tunnel von Babel
Selbst Strom für das Licht den verlegen wir drin
Wir schachten den Tunnel von Babel
Draussen das Fest erreicht den Höhepunkt
Wir graben den Schacht von Babel"
(Einstürzende Neubauten)

In den 90ern gab es einen symbolischen Kampf um einen Leseturm im Museumsquartier: zwischen jenen, die einen alles überragenden 67 Meter hohen Turm als weithin sichtbares und symbolhaftes Wahrzeichen des Kultur-Quartiers forcierten, und der oben erwähnten ersten Bürgerinitiative, die das aus denkmalschützerischen und stadtplanerischen Gründen ablehnte. Die Auseinandersetzung zwischen den zu spät gekommenen ModernistInnen und den Hütern des kulturellen Erbes wurde hochemotional und unter größerer medialer Beteiligung geführt. Die Alternative zwischen der reaktionären Verhinderung von neuen Bauten und der Realisierung des Leseturms als exemplarische Repräsentationsarchitektur ist allerdings grundfalsch. Wo es um Herstellung von Öffentlichkeit und die Wiederaneignung des öffentlichen Raums geht, muss gerade die Idee von Repräsentationsbauten kritisiert werden, ob es sich nun um alte oder neue dreht.

Die Einstürzenden Neubauten besangen den "Schacht von Babel" in Anspielung auf den literarischen Experten des Turm- ebenso wie des Bau-Baus, Franz Kafka. Kafkas Turmidee entfernt sich im Roman "Das Schloss" einigermaßen von der herkömmlichen Vorstellung des Elfenbeinturms, der transzendent die barbarische Weltlichkeit überragen möchte. Im Gegenteil, der Turm im "Schloss" öffnet sich nach oben, als hätte ein dort oben eingesperrter Hausbewohner "das Dach durchbrochen und sich erhoben ..., um sich der Welt zu zeigen." Und Kafka geht noch weiter, wenn er dieses Bild invertiert in der Überlegung, dass Fortschritt nur geschehen könne, wenn der zu hohe Standort am Turm verlassen wird. In Kafkas Fragment "Ich entlief ihr…" findet sich die Anmerkung, auf die sich die Einstürzenden Neubauten beziehen: "Was baust Du? Ich will einen Gang graben. Es muß ein Fortschritt geschehn. Zu hoch oben ist mein Standort. Wir graben den Schacht von Babel."

Die Idee des Schachts, des invertierten Turms ist das Gegenbild des Elfenbeinturms. Gegen die Politik der Repräsentation alten wie neuen Zuschnitts setzt sie gerade nichts weithin Sichtbares, Zentrales, nichts, was Undarstellbares darzustellen versucht, sondern etwas Unsichtbares. Der inverse Turm ist also keine Metapher, sondern die Erzeugung von etwas Unsichtbarem, nämlich von Diskurs und Dissens, von konfliktuellen Öffentlichkeiten. Gegen das hoch aufragende Symbol künstlerischer Erhabenheit gilt es ein Loch zu buddeln, das sich in die Welt bohrt. Einen Raum, wo niemand sich den großen Überblick über das globale Geschehen anmaßen kann, wo Fortschritt entsteht durch Verlassen des zu hohen Standorts, wo es dafür umso mehr Anschluss gibt an unterirdische Stränge und Systeme. Der inverse Turm wäre also kein Ort der bürgerlichen Kontemplation wie der Leseturm, noch ein Ort des Spektakels, sondern ein Ort der Aktualität, des gegenwärtigen Werdens, ein Turm, der sich in die heutige Welt hineinbohrt.

Im Kontext der Debatte um den "Kunstplatz Karlsplatz" erweist sich eine Versuchsanordnung zum inversen Turm als nun besonders geeignet, wendet sich die vermeintliche Metapher vollends ins Materielle: Im Laufe des Umbaus der U-Bahn sind unter dem Karlsplatz einige unterirdische Räume freigeworden, die Überlegungen zu einer kulturellen Nutzung laut werden ließen. Diese Räume einfach nun den Traditionsinstitutionen am Karlsplatz zu überlassen, wäre schlicht und einfach konservative Kulturpolitik.

An konkreten Alternativen, die einen solchen unterirdischen Ort prägen könnten, besteht andererseits kein Mangel. Der Diskursschacht mit seinen konstruktiv durcheinander laufenden Stimmströmen würde nicht nur den früher im Museumsquartier verorteten Initiativen wie Public Netbase und Depot zu einem geeigneten Standort verhelfen, sondern auch einen - darüber hinausgehenden und weitere Gruppen einbeziehenden - kulturpolitischen Akzent setzen, der in Wien bisher fehlt. Radikal-diskursive Kulturinitiativen, Netzkultur, Medienkunst, Kunsttheorie könnten eine experimentelle Überlagerung von Kunst, Politik und Theorie versuchen, ohne zur Vertreibung der marginalen Gruppen beizutragen, die den Karlsplatz derzeit am stärksten prägen.

Eine derartige Überlagerung und Verortung an einem Ort, der durchzogen wird von den Strömen der Aktualität, käme schließlich auch sehr gelegen für die Rettung eines anderen kulturpolitischen Projekts in Wien: Das seit Jahren in Planung und Vorbereitung befindliche Diskurszentrum artscience vienna würde eine nicht-bürokratische Struktur genauso dringend benötigen wie ein Andocken an die existenten Kräftefelder progressiver Kunst- und Theorieproduktion in Wien. Der inverse Turm am Karlsplatz ist genau jene Form, die die experimentelle und zukunftszugewandte Qualität dieser Idee zu sichern verspricht.


Gerald Raunig ist Philosoph und Kunsttheoretiker, lebt in Wien.

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