Schlüsselkinder - Studieren zwischen Praktikum und Prekarität

Die Universität ist schon lange keine intellektuelle Insel mehr, die wenigen Freiräume, die durch die Studierendenproteste in den 1970ern erkämpft wurden, unterstehen mittlerweile der ökonomischen Diktatur.

Astrid Hartmann strahlt. 19 Jahre, sportlich, sozial engagiert und die erste österreichische Studentin, die ihr Jus-Studium in sechs Semestern parallel zur Oberstufe absolvierte. Sie sei "ein Zeichen für die heutige Flexibilität der Universität" stellte der Rektor der Wiener Hauptuni, Georg Winkler, im Anschluss an die Sponsionsfeier beglückt fest. Mehr von dieser Sorte und die AkademikerInnenqoute in Österreich würde in den Himmel schießen, die Unis wären bevölkert von wissensdurstigen, zielstrebigen jungen Menschen, denen nichts mehr am Herzen liegt, als topausgebildet ihren Dienst an der Gesellschaft zu erfüllen.

Die Bildungs- und Sozialreformen der letzten Jahre haben sukzessive die Umbesetzung Identität stiftender Werte und Zielsetzungen von Studierenden bewirkt. Einerseits drängen die durch zwei Sparpakete eng gesteckten Grenzen der Familien- und Studienbeihilfe, Studiengebühren und die stärker werdende Verschulung ins Schnelldurchlaufstudium. Für viele "Mittelschichtskinder" - zu reich für Beihilfen, zu arm für die elterliche Vollfinanzierung - setzt hier die sich nach unten drehende Spirale "Studium muss finanziert werden, Nebenjob verlängert Studienzeit" ein. Seit Einführung der Studiengebühren sehen sich mehr als zwei Drittel aller Studierenden veranlasst, nebenbei zu arbeiten, von ihnen meinen nur 7,6 % dadurch keine Einschränkung in ihrem Studierverhalten zu erleben. Die berüchtigten Nebenjobs entbehren mittlerweile der gewissen Taxifahrromantik, graue Großraumbürokojen im Callcenter und blaugefrorene Hände beim Zettelverteilen am U-Bahnaufgang lassen erahnen, was prekäre Beschäftigung bedeuten kann.

Andererseits hat sich der Zwang zur Zusatzqualifikation mit der Reihe an zu absolvierenden Praktika, Aulandsaufenthalten und einer bunten Auswahl an Kurzausbildungen als vermeintlich selbst gewähltes In-die-eigene-Zukunft-Investieren eingeschrieben. Schlaue Eltern verfrachten ihre Sprößlinge ungeachtet der eigenen obersteirischen Herkunft am besten in den französischsprachigen Kindergarten. Das Kind wird seinen Eltern spätestens nach dem Verfassen seines ersten Bewerbungsschreibens dankbar in die Augen blicken. Denn jedeR weiß: Nur die Bestausgebildeten werden den Widrigkeiten des Arbeitsmarktes trotzen und ihren Fähigkeiten entsprechend entlohnt werden.

Es scheint fast, als würden die Generationen, die mit dem Credo der neoliberalen Hegemoniepolitik, dem permanenten Selbstmanagement aufwachsen, ein anderes Altersverständnis etablieren - die UnternehmerInnenjugend. Hadern die heute ab 25-Jährigen noch mit dem elterlichen Anliegen, doch bitte eine solide Ausbildung zu machen, um dann den Job fürs Leben finden zu können, sehen die meisten MaturantInnen und StudienanfängerInnen im Jobhopping, totaler Eigenverantwortlichkeit und Leistungsdruck keinen düsteren Abgrund, sondern eine Herausforderung für das Selbstbewusstsein. Lauscht man zu Beginn eines Semester den Inskriptionsberatungsgesprächen, stellt man schnell fest, dass der Großteil der AnfängerInnen bereits konkrete Vorstellungen vom Studienablauf, ihrem Ausbildungsplan und den eigenen Fähigkeiten besitzen. Die Standard Online Umfrage "Ansichtssache" vom 3. April, ob denn die Einführung von Zugangsbeschränkungen zum Hochschulstudium zu befürworten sei, beantworteten 90 Prozent der Befragten positiv. Die Konkurrenz würde die Qualität sichern, hieß es mehrmals. Das Selbstbewusstsein, auf der GewinnerInnenseite zu stehen, scheint durch wenig zu erschüttern, wird es auch durch das Mantra der New Economy "Du kannst alles schaffen, wenn du nur willst" permanent gespeist. Diese schon fast selbsterlöserische Botschaft findet sich ja auch in dem emanzipatorischen Anliegen, sich nicht von der Ausschließlichkeit einer Ordinarienuniversität und dem Prinzip der Geburt als Leistung von höherer Bildung und Sinn stiftendem Tun abhalten zu lassen.

Hier liegen gleichzeitig der Hund und das Erfolgsrezept der neoliberalen Ideologie begraben. Sozialwissenschafterin Frigga Haug verortet die ideologische Stoßrichtung "in der Anrufung der Menschen in Dimensionen ihres Menschseins, ihrer Hoffnungen und ihres Glücks an. Sie nutzt also menschliches Streben nach Glück zur Selbstunterwerfung. Antonio Gramsci nannte dies eine ‘passive Revolution’. Man kann den Erfolg des Neoliberalismus so begreifen, dass wirkliche Elemente von Selbstbestimmung als Baustein für Fremdbestimmung genutzt werden."

Das neue studentische Selbstbewusstsein, das sich vornehmlich im Selbstverständnis als KundIn einer Bildungseinrichtung und TrägerIn von Humankapital gründet, ist zweifelsohne auch Resultat eines Drangs zur Selbstbefreiung. Obwohl die Studiengebühren für viele eine große finanzielle Belastung darstellen und sie gezwungen sind, beim Greenpeace-Keilerjob mit der Entnervtheit der Restbevölkerung und einem lachhaften Aufwand/Lohn-Verhältnis zu leben, hat sich statt einer Protestkultur eine starke Einforderungsmentalität herausgebildet. "Wenn ich schon dafür zahlen muss, will ich zumindest einen Sitzplatz". Die im Laufe des eigenen Bildungsweges gemachten Unrechtserfahrungen werden durch die Lösungsangebote einer rechts-konservativen Bildungspolitik wie Studienplatzbeschränkung, höhere Gebühren und Knock-Out-Prüfungen kanalisiert. Es wird nicht gegen das System rebelliert, sondern der Ärger wird zum Selbstzweck und Motivationsgrundlage für ein gesteigertes Bemühen. Das Studium wird zum bloßen Ausbildungsaufwand, der neben dem eigentlichen Leben zu erledigen ist. Das mag für das kritische und kreative Potenzial junger Menschen schlecht sein, für die Regierung und die Wirtschaft nur der logische Schritt, um eine Mehrwertsteigerung für die nächsten Jahre zu sichern.

Die Universität ist schon lange keine intellektuelle Insel mehr, die wenigen Freiräume, die durch die Studierendenproteste in den 1970ern erkämpft wurden, unterstehen mittlerweile ebenso der ökonomischen Diktatur. Dass sich die Menschen, die die Uni bevölkern, einer solchen nicht entziehen können, weil man sich der ökonomischen Notwendigkeit an sich ausgeliefert sieht, klingt zwar lapidar, aber vom zukünftigen sozialen Prestige als AkademikerIn kann man eben nicht abbeißen. Das Arrangieren mit den Verhältnissen ist die Konsequenz, bemerkenswert ist aber, dass sich die Generation der StudienanfängerInnen nicht nur arrangiert, sondern die neoliberale Dogmatik verinnerlicht hat.

Die UnternehmerInnenjugend hat als Grundprinzip der Wissensaneignung die eigene Selbstvermarktung. Praktika und Zusatzausbildungen sind ihre Schlüssel zum Arbeitsmarkt, wo die Konkurrenz zwar tobt, aber die Nerven schnell mit einem neuen SoftSkill-Schub beruhigt werden können. Die Mär, dass doch nur die eigene Leistung zähle, hätte an sich schon genug Opfer gefordert. Denkt man an das sogenannte "selbstbestimmte Prekariat", jene Menschen, die freiwillig in der absoluten Unabhängigkeit ihre Erwerbsarbeit zum Lebensstil erkoren haben, bleibt die "harte Realität" der Firmenzusammenbrüche, gescheiterten Ich-AgentInnen, der offenen Repression von Seiten der Sozial- und Arbeitsämter, nicht existente soziale Absicherung und nicht zuletzt das erbärmlich wenige Geld die Pille, die es zu schlucken gilt. Statt einengender Sicherheit und Stabilität herrscht Ungewissheit.

"Das Individuum muss aus sich heraus jeweils von neuem mit der Kontingenz, also der Tatsache, dass auch alles andere möglich sein könnte, fertig werden." Diese Zurückgeworfenheit auf sich selbst, die der Sozialwissenschafter Alex Demirovic als Charakteristik des eingesetzten Wertewandels identifiziert, verursacht einen doppelten Backlash. Es entwächst aus dieser Selbstverantwortlichkeit nämlich paradoxer Weise kein Bedürfnis nach Solidarität, sondern ein fast schon pervertierter Individualismus. Dem steigenden Konkurrenzdruck wird ein "noch-mehr-Anstrengen" entgegen gehalten. Permanentes Selbstmanagement, das keine Arbeitszeiten kennt und jederzeit auf neue Qualifikationsangebote zurückgreift, scheint der einzige Weg zu einem halbwegs gesicherten Einkommen. Damit bewegt sich unsere Arbeitsgesellschaft auf der Matrix des "Niemals Genügens", ein fruchtbarer Boden für Unternehmen, die ihre MitarbeiterInnen nach Bedarfslage austauschen.

An der Phase des Überstiegs von Ausbildung ins Erwerbsarbeitssystem kann man dieses Muster sehr gut nachzeichnen. Der Übergang vom Bildungs- ins Beschäftigungssystem gestaltet sich nämlich immer weniger als Umstieg. Der Übergang zur Vollzeitarbeit zerfließt im Becken der "Erprobungsphase", welche durch Praktika, Teilzeitarbeit und befristete Werkverträge der willigen ArbeitnehmerInnen in unverblümter Weise zeigt, wer die/der BittstellerIn ist. Oft hängen Jobsuchende in dieser Phase Kurzausbildungen an ihre eigentliche Ausbildung, um ihre Chancen zu verbessern. Die damit verbundene Abwertung der Erst- oder Grundausbildung scheint auf wenig Widerstand zu stoßen, wer will schon was gegen lebenslanges Lernen sagen?

"Die Zertifikate, die im Bildungssystem vergeben werden, sind keine Schlüssel mehr zum Beschäftigungssystem, sondern nur noch Schlüssel zu den Vorzimmern, in denen die Schlüssel zu den Türen des Beschäftigungssytems vergeben werden." So beschreibt der Soziologe Ulrich Beck die immer enger werdende Qualifikationsspirale. Die Zeit zum Ein- oder Umarbeiten bei bereits erfolgter Anstellung ist dagegen im Verschwinden begriffen, verlangt werden bei Vorstellungsgesprächen nicht nur zusätzliche Qualifikationen, sondern auch schon konkrete Aussagen über den eigenen ja noch gar nicht erlebten Arbeitsplatz.

Der Dokumentarfilm "Dunkler Lippenstift macht seriöser" von Katrin Rothe aus dem Jahr 2003 zeigt zwei Uni-Absolventinnen auf der Suche nach Arbeit. In einem der Vorstellungsgespräche wird die Arbeitssuchende gefragt, wie nun genau sie sich ihren Aufgabenbereich vorstelle, was sie dafür einbringen werde und dass sie das am besten an einem vorzulegenden Halbjahresplan skizzieren solle. Wenn sie das nicht könne, dann wäre ihr vorerst ein halbjähriges Praktikum in der Firma zu empfehlen, mit kleiner Aufwandsentschädigung, versteht sich. Dass man mit 28 Jahren und einem Hochschulabschluss vielleicht mehr zum Leben braucht als 400 Euro für 40 Wochenstunden, ist dann das ganz eigene Problem. BewerberInnen gäbe es ja genug.

Der Arbeitsmarkt verlangt offenbar nach einem neuen Menschentyp, nach einer UnternehmerInnenjugend mit der Qualifikation und Erfahrung von 40-Jährigen und den Ansprüchen von 19-jährigen SchülerInnen. Astrid Hartmann hat gute Chancen, sollte sie ihr Dissertationsstudium innerhalb von zwei Monaten abschließen.


Linda Kreuzer studiert schon viel zu lange Katholische Theologie und ist Chefredakteurin des ÖH-Magazins Progress.

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