Im Osten nichts Neues?

In der Stunde der Jahresbilanz preisen sich westliche Unternehmen mit den Gewinnen im postsozialistischen „Osten“. Die Wirtschaftsnachrichten lesen sich wie ein neues Genre, eine Schwindel erregende Kreuzung zwischen Krimi und Propagandabroschüre, in dem vor allem klassisch orientalistische Zuschreibungen ihr Revival feiern. „Der Osten“ „selbst“ darf bei denselben Veranstaltungen, Zeitungsartikeln und Nachrichten höchstens in der pseudoambivalenten Koppelung von Mangel und Überfluss vorkommen.

In der Stunde der Jahresbilanz preisen sich westliche Unternehmen mit den Gewinnen im postsozialistischen „Osten“. Die Wirtschaftsnachrichten lesen sich wie ein neues Genre, eine Schwindel erregende Kreuzung zwischen Krimi und Propagandabroschüre, in dem vor allem klassisch orientalistische Zuschreibungen ihr Revival feiern. „Der Osten“ „selbst“ darf bei denselben Veranstaltungen, Zeitungsartikeln und Nachrichten höchstens in der pseudoambivalenten Koppelung von Mangel und Überfluss vorkommen, in dem Bild eines undefinierten, bedrohenden FrauenÜberkörpers[1] aufflackern oder in der sich überlappenden Dreifaltigkeit – Sexarbeiterin, Pflegerin, gehandelte Frau – präsent sein. Dabei werden nicht nur im Alltags-, sondern auch im politischen und medialen Diskurs konstant die Grenzen zwischen Sexarbeit und Frauenhandel verwischt – indem die vorwiegend von Migrantinnen geleistete Pflegearbeit unsichtbar gemacht wird, aber auch, indem die Unterschiede zwischen einem den Regulierungen zwar entzogenen, aber selbstbestimmten und einem von krasser Ausbeutung und Zwängen geprägten Arbeitsverhältnis getilgt werden.

„Der Osten“ als Frau, die Frau als Körper

Ein beliebtes Motiv, das uns durch die Zeitungsüberschriften begegnet, ist das der Überschwemmung – einer Naturgewalt, die alles, auch die okzidentalen Errungenschaften, so die Andeutung, zu verschlingen droht. Anhand von Slogans wie „Die Russinnen kommen“ lässt sich der Vorgangsakt konkret dekonstruieren: Die in dem vorausgehenden Kontext des Kalten Krieges spezifisch aufgeladenen Realien werden aktuell reformuliert. Der Angsttopos wird aus der Perspektive des „Systemwettbewerbsgewinners“ lustvoll wieder hervorgeholt und umgestaltet, und die Botschaft an einen anderen EmpfängerInnenkreis gerichtet. Jetzt wird nicht mehr – wie zur Zeit des Kalten Krieges – die zivile Gesellschaft als Ganzes angerufen, sondern bestimmte, vor allem untere Schichten werden gezielt durch die suggerierte Konkurrenz angesprochen. Die Botschaft zielt drauf, soziale Unterschiede hervorzuheben und neu zu schaffen, und gleichzeitig auch soziale Solidarität zu unterbinden.

Im gleichen Zug wird der Slogan dicht mit sexistischen und ethnisierenden Motiven verwoben und damit „der Osten“ doppelt imaginiert: Einerseits als „die Osten“ in der Gestalt eines Frauenüberkörpers, der unabgeschlossene, auswuchernde, verschlingende Züge annimmt, wie auch als abgeschlossener, individueller, verfügbarer Frauenkörper, in den Lust bzw. Hausarbeit ausgelagert wird. „Der Osten“ als Frau, die Frau als Körper, der Körper naturalisiert, sexualisiert, romantisch-erotisch verklärt oder als traumatisiert-hilflos stilisiert, als auf sich selbst zurückgeworfen und ohne jegliche sozialen Gefüge, so die Festschreibung. Artikulierungen, die zu Argumentationen verfestigt dazu führen, Frauenmigrationsdebatten abseits von strukturellen Zusammenhängen und EU-Migrationsregimen als eine individualisierte Strategie zu verhandeln. Die aufschlussreichsten Tabuisierungen aber, welche die postfordistische Projektion hier leistet, beziehen sich auf einen in diesem Bild behaupteten Mangel: das Fehlen von gesellschaftlichen und sozialen Verbindungen, von Struktur und Strukturen, von Zukunftsperspektive und eigenständigem Emanzipationspotenzial. Just jene Momente also, die den Kern des kommunistischen Projekts ausgemacht haben. Der postsozialistische Frauenkörper markiert also, indem er seine Umkehrung darstellt, den leer hinterlassenen Platz der abhanden gekommenen Vision.

Die im medialen Diskurs überrepräsentierten, oft ambivalent gehaltenen Konstruktionen – Kriminalisierung und Traumatisierung der Betroffenen von Frauenhandel z.B. – bereiten folglich jene Deutungsmuster auf, die gegebenenfalls als universale interpretative Tools nach Gelegenheit herangezogen werden. Das projizierte Bild des traumatisierten Frauenkörpers hat mithin mehrere symbolische Leseebenen: das Scheitern des sozialistischen Systems, die Warnung vor diesem als folgenschwere Katastrophe, die Verkörperung der Verarmung der postsozialistischen Gesellschaften und das Signalisieren eines gewissen Unvermögens dieser Gesellschaften zu Transformation.

Gleich mit dem Fall des eisernen Vorhangs setzte auch das Wetteifern um die Produktion der neuen Bilder und Artikulationen „des Ostens“ massiv an. Die Euphorie des Aufbruches wich sehr bald dem Willen zur neuen (Definitions-) Macht. Dies geschah in Form der Reaktivierung und Konstruktion von spezifischen Bildern, die „den Westen“ erfolgreich als eine Autoritätsinstanz projizieren, welche über Kompetenzen, Kapital und „die richtigen“ Erfahrungen verfügt. Wirksam dethematisiert werden bei dieser Verschiebung die expliziten Interessen dieser „ersten Welt“ – an der ausbeutbaren Arbeitskraft und an den Exportmärkten „des Ostens“, an seinen vielfältigen Natur- und Gesellschaftsressourcen. Die längerfristige Verankerung solcher Bilder jedoch wäre ohne die Abtragung und Umschreibung ganzer Stücke Realität nicht zu bewältigen.

Die Geschwindigkeit, mit der der Prozess der Umdeutung und die Kreierung der neuen Images vonstatten ging – Mitte der 1990er war er so gut wie abgeschlossen –, zeugte von dem Willen der „ersten Welt“, die „zurückeroberten Gebiete Europas“ (der Speach der frühen 1990er offenbart die explizite Kriegsterminologie) diskursiv zu bestimmen und jede Spur von jenen Elementen abzutragen, welche andere Gesellschaftsmodelle affirmieren könnten. Die „Stimulierung der Transformationsökonomien“, womit die völlige Entfesselung der wirtschaftlichen Entwicklungen in den postsozialistischen Gesellschaften umschrieben wird, war nur einer dieser Wege. Das Neuverhandeln der Geschlechterverhältnisse, die Vereinnahmung von realsozialistischen Geschichtssträngen usw. zeichnen aber das Vorhaben, das neoliberal-neokoloniale Modell, seine Konturen und seinen Umfang als die einzig funktionierende und einzig mögliche Gesellschaftsordnung darzustellen.

Empowermentansätze

Die große Frauenmigrationswelle seit den 1990ern ist in ihren verschiedensten Facetten als eine der Antworten auf diese vielseitige Inszenierung zu verstehen. Und bezahlte sexuelle Dienstleistungen, prekäre Hausarbeit und informelle Krankenpflege machen auch einen Teil dieser Migration aus. Ihre strukturelle Bedingtheit durch EU-Gesetzgebung, ihre Verflechtung in postsozialistische Transformationsprozesse sowie ihre Verankerung im aktuellen Kontext der Globalisierung oder in jenem der vielfältigen Umgestaltung des Produktionsprozesses in postfordistischen Gesellschaften wurde seit Mitte der 1990er immer stärker von migrantischen Selbstorganisationen, AktivistInnen und feministischen TheoretikerInnen thematisiert.

In Österreich initiierten die Migrantinnenorganisationen LEFÖ und maiz eine Auseinandersetzung mit dieser Problematik und trugen einerseits zu einer weitgehenden Entkoppelung zwischen dem Diskurs des Frauenhandels und der Sexarbeit und andererseits zur Einbettung der Migrationsbewegungen und -fragen in den breiteren Kontext des sich global reorganisierenden Neoliberalismus bei. Ein wichtiger Empowermentansatz bestand darin, den in informellen Arbeitsverhältnissen beschäftigten Frauen als Arbeiterinnen zu begegnen und somit auch die Frage nach ihren Rechten und der Beschaffenheit ihrer Arbeitsbedingungen, z.B. für Sexarbeiterinnen, zu ermöglichen. Eine zentrale Rolle in diesen Kämpfen kam auch der (De-)Konstruktion des Bildes der postsozialistischen Frau als einem gebeutelten, von Not getriebenen Körper zu – und der Freilegung und Erarbeitung einer Protagonistinnen-Sprecherinposition.

In einer transnationalen Kooperation zwischen Frauen- und migrantischen Organisationen aus außereuropäischen und EU-Ländern fokussieren Aktivistinnen ökonomische und gesetzliche Voraussetzungen und versuchen, in jahrelanger Kleinarbeit ihre Veränderung auf mehreren Ebenen zu bewirken. Die Erfahrung zeigt, dass solche Positionierungen mitunter folgenreich sein können. Dies verlangt den Organisationen nicht nur Ressourcen ab, sondern setzt eine weitgehende Stabilität bzw. Selbständigkeit der Organisation voraus. Wie mehrschichtig die Bewegung in diesem Feld ist, zeigt sich an dem Beispiel einer etablierten NGO aus einem postsozialistischen Land: Die Organisation, die ein emanzipatives, nicht-abolutionistisches Engagement in der Zusammenarbeit mit SexarbeiterInnen zeigte, musste in der ersten Amtsperiode der Bushregierung krasse Subventionskürzungen hinnehmen, da sich im US-amerikanischen Diskurs Verschiebungen von einer Empowerment- zu einer karitativen Perspektive vollzogen hatten. Das zeugt von neuen Verknüpfungen zwischen lokalen und globalen Gegebenheiten sowie von einem höchst widersprüchlichen Eingebettetsein in nationale und transnationale Zusammenhänge.

Möglichkeiten der Wiederbelebung eines emanzipativen Projekts

Das Fehlen solcher Facetten und Einbeziehungen zeigt uns, dass ein homogenes Bild von „Osteuropa“ nur durch koloniale Techniken – wie z.B. mittels eines Rückständigkeitsdiskurses – kreiert werden kann. Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Variante von Modernisierung erfuhr das Gegensatzpaar „moderner Westen“ / „rückständiger Osten“ seine Verfestigung und Vervielfachung und avancierte nun zum zentralen Topos sowohl einer Selbstpositionierung wie auch einer Fremdzuschreibung. Es gilt, diese Klischees mehrfach zu brechen, entlang von unterschiedlichen Kriterien zu spezifizieren und auf beiden Seiten zu hinterfragen. Denn paradoxerweise erzeugt ein solches polares Bild auch einen zweiten, weitreichenden Effekt: Erst unter der Prämisse dieser Rückständigkeit erfährt der Übergang der postsozialistischen Gesellschaft ihren positiv aufgeladenen Sinn und auch ihr immanentes Ziel hin zum (neo-)liberalen marktwirtschaftlichen System.

Genau dieser Ort wird als Urort der Demokratie projiziert – unter Verdrängung der tief greifenden Umstrukturierungen, die seit den 1990er Jahren nicht nur den Abbau des Wohlfahrtstaates in den EU-Ländern bewirkt haben –, und als eine Rückkehr „des Ostens“ in den fortschrittlichen, demokratischen, freien „Westen“ inszeniert. Nur in einem solchen diskursiven Kontext kann die Amnesie der emanzipativen Momente des realsozialistischen Modells auch gewährleistet werden. Und nur durch die Veränderungen dieses diskursiven Kontextes kann der emanzipative und partizipative Faden – und einer seiner Stränge ist die umfassende Gleichstellung von Frauen nicht bloß als Frauenforderung, sondern als ein emanzipatives Projekt verstanden, das alle[2] Geschlechter betrifft – wieder aufgenommen und neu verwoben werden.

1 Der Begriff bezieht sich auf den grotesken Leib bei Bachtin und versucht, seine Charakteristika als stets werdender, niemals abgeschlossener Leib, der die Welt in sich hinein schlingt und selber von der Welt verschlungen wird, aufzugreifen.

2 Vielen Dank an Persson Perry Baumgartinger für den Hinweis.

Radostina Patulova ist Philosophin und Kulturarbeiterin, lebt in Wien.

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