Jenseits dokumentarischer Doktrin. Leichtes Plädoyer wider den dokumentarischen Ernst.

Der Dokumentarfilm erlebt scheinbar eine Renaissance im Kino – beste Gelegenheit darüber zu diskutieren, wie er sich von seiner Jahrzehnte langen TV-Abhängigkeit lösen kann. Zuallererst muss erkannt werden, dass die Doktrinen der Authentizität, Objektivität und Glaubwürdigkeit strukturelle Gesetze des Fernsehens und nicht des Kinos sind. Solange der Kinofilm nicht bereit ist, sich von diesen Fesseln zu befreien und das performative Spiel mit ihnen ins Zentrum des Filmemachens zu rücken, wird er weiterhin Kuriosum bleiben – schlimmer noch: Er wird es nicht vermögen, seine emanzipativen Potenziale zu entfesseln.

Der Dokumentarfilm erlebt scheinbar eine Renaissance im Kino – beste Gelegenheit darüber zu diskutieren, wie er sich von seiner Jahrzehnte langen TV-Abhängigkeit lösen kann. Zuallererst muss erkannt werden, dass die Doktrinen der Authentizität, Objektivität und Glaubwürdigkeit strukturelle Gesetze des Fernsehens und nicht des Kinos sind. Solange der Kinofilm nicht bereit ist, sich von diesen Fesseln zu befreien und das performative Spiel mit ihnen ins Zentrum des Filmemachens zu rücken, wird er weiterhin Kuriosum bleiben – schlimmer noch: Er wird es nicht vermögen, seine emanzipativen Potenziale zu entfesseln.

Benjamin schau fern

Am 15. Januar 1928 sitzt Walter Benjamin in seiner Wohnung und schaut fern. Allerdings, das Fernsehen wird erst acht Jahre später erfunden werden und noch weitere 20 Jahre benötigen, um tatsächlich Eingang in die Wohnzimmer der Bürger zu finden. Dass er trotzdem in den exklusiven Genuss der Glotze kommt, ist allein seiner visionären Fantasie zu verdanken – und diese wiederum dem Umstand, dass er es sich an diesem kalten Wintertag mit einem wohligen Haschisch-Ofen gemütlich gemacht hat, um ungestört Selbstgespräche führen zu können. Sogleich kommt er ins Sinnieren: „Vielleicht ist es keine Selbsttäuschung zu sagen, dass man in diesem Zustand eine Abneigung gegen den freien sozusagen uranischen Luftraum bekommt, der den Gedanken des ‚Draußen’ beinah zur Qual werden lässt. Es ist ein dichtes, sich eingewebt, sich eingesponnen haben, ein Spinnennetz, in dem das Weltgeschehen verstreut wie ausgesogene Insektenleiber herumhängt. Von dieser Höhle will man sich nicht trennen... Auf das Kolportagephänomen des Raumes zurückzukommen: es wird simultan die Möglichkeit aller potenziell in diesem Raum etwa geschehnen Dinge wahrgenommen. Der Raum blinzelt einen an: Nun, was mag sich in mir wohl zugetragen haben?... Zusammenhang dieses Phänomens mit der Kolportage. Kolportage und Unterschrift. So vorzustellen: man denke sich einen kitschigen Öldruck an der Wand und im unteren Teil des Rahmens einen länglichen Streifen herausgeschnitten. Durch die untere Leiste liefe ein Band und nun erschienen in dem Spalt Unterschriften die einander ablösten: ‚Ermordung Egmonts’, ‚Kaiserkrönung Karls des Großen’...“ (Benjamin 1972: 70ff.) Benjamins scheinbar paradoxen Geisteszustand des Eingewobenseins im intimen Luftraum und gleichzeitigen Teilhabens am Weltgeschehen, des Im-Weltgeschehen-Eingewoben-Seins, kennt heute jeder zu genüge. Die dokumentarischen Öldrucke sind durch digitale Lichtsplitter ersetzt, das Laufband liefert uns Informationen über die neuesten Börsenentwicklungen oder die privaten SMS-Liebesbotschaften von Hinz aus Kunz. Das ausgesogene, blutleere Weltgeschehen sind brennende Marktplätze in Bagdad oder private Zankereien vor tobendem Publikum.

Die Einheit des Dokumentarischen mit dem Privaten

Das Visionäre an Benjamins Träumerei ist nicht, dass er sich das Fernsehen vorstellte, sondern wie er es sich vorstellte. Zu jener Zeit war der Kampf des Dokumentarfilms, welcher drei Jahrzehnte zuvor das Kino aus der Taufe hob, gegen den fiktionalen Film bereits verloren: Die Kinematographie fing mit den Lumière´schen Operateurs an, die durch Stadt und Land zogen, um frisch vor Ort gefilmtes – im ursprünglichen Sinne dokumentarisches – Material zum Besten zu geben. Die erste Faszination des Films war seine Unmittelbarkeit und authentische Wirklichkeitsgleichheit – glaubhaft vermittelt durch die Indexikalität seiner Zeichen: Siehe, Film ist nicht nur wie Wirklichkeit, er ist Wirklichkeit!
Doch diese Begeisterung verblasste, um bald dem Spielfilm Platz zu machen. Wohin nun mit dem Dokumentarismus? Benjamins intuitive Antwort: Er gehört genuin in den privaten Raum, und er gehört ins Fernsehen, das von Anfang an nicht als Abspielstätte gespeicherten Bildmaterials entworfen wurde, sondern auf unmittelbare Übertragung baute. Warum es bis in die 1990er Jahre brauchte, damit sich diese Erkenntnis auch unter den Sendeverantwortlichen vollständig durchsetzte, bleibt ein Rätsel. Heute zumindest beherrscht endlich das Dokumentarische die televisionäre Welt. Es fing mit Nachmittags-Talkshows ans und fand seine Verschärfung mit Big Brother und Kamerapräsenz in Polizeistreifen. Überall (außer in Österreich) schießen Discovery und andere Doku-Channels aus dem Boden. Vor Nachrichtenkanälen kann man sich kaum noch retten.

Gewichtigere Ursache für dieses Phänomen als vordergründig wirtschaftliche Rationalisierungsmaßnahmen scheint mir zu sein, dass die intensive Welterfahrung, die einem das visuelle Dokumentarische anbietet, einen adäquaten Raum benötigt, in dem sie sich widerstandslos ausbreiten und verarbeitet werden kann – in dem die Realität der Öffentlichkeit nicht als Schock erlebt wird. Dieser Raum ist das Wohnzimmer – der private, heimische Gewöhnlichkeitsraum, in dem sich das Bewusstsein des einzelnen auf die kleinsten sozialen Einheiten zurückgezogen hat. Hier kann alles leicht mit unbewussten Handgriffen verdrängen werden, was nicht hineingehört. Benjamin schreibt an anderer Stelle: „Die taktile Rezeption erfolgt nicht sowohl auf dem Wege der Aufmerksamkeit als auf dem der Gewohnheit. Sie findet von Hause aus viel weniger in einem gespannten Aufmerken als in einem beiläufigen Bemerken statt. Gewöhnen kann sich auch der Zerstreute. Mehr: gewisse Aufgaben in der Zerstreuung bewältigen zu können, erweist erst, dass sie zu lösen einem zur Gewohnheit geworden ist.“ (Benjamin 1977: 41)

Die dokumentarischen Doktrinen des Fernsehens

Die Frage nach der Vermittlung von Wirklichkeit ist immer auch eine Frage nach der Art und Weise der Reproduktion von Wirklichkeitskonstruktionen – und infolgedessen eine Frage nach der systemischen Reproduktion von Subjekten, nach der Fundierung ihrer identitären Wahrheiten sowie jener der Gesellschaft, in der sie sich einbetten. Wie greifen Kommunikationssystem und Bewusstseinssystem ineinander und welche Art von Kontrollmacht entsteht daraus?
Mit der kongenialen Zusammenführung des Dokumentarischen mit dem Gewohnheitsraum entsteht eine Welteinverleibungsapparatur, in der zwangsläufig Konsens und Stillstand regiert – und der Dokumentarfilm all seine emanzipativen Potenziale und diskursiven Dynamiken einbüßt, weil der Verhandlungsraum auf ein Minimum eingeschränkt wird. Dies ist Resultat dreier sich gegenseitig verstärkender Faktoren:
Die Authentizität: Das Faszinierende am Filmisch-Fotografischen ist seine Evidenz, mit der es seine Botschaft an das Ego herantragen kann. Dies ist die Grundlage für die fruchtbare Kooperation des dokumentarischen Begehrens mit dieser Art von Medium. Die Naivität, die dem Dokumentarfilmer notwendig zu eigen ist, um seine Arbeit tun zu können, verwirft allerdings das Problematische an dieser allzu schönen Allianz: Authentizität ermutigt den Betrachter dazu, die Tatsache zu verdrängen, dass es sich um einen konstruktiven Diskurs handelt, in dem es um die Reproduktion von Machtverhältnissen geht. Hier passiert, was Louis Althusser unter „Ideologie“ versteht: die Komplizenschaft einer sich zur „Natur“ erhobenen, evidenten Botschaft mit dem Begehren des Subjekts nach „natürlicher“, souveräner Identität. Es ist eine diskursive Allianz wider das Zweifeln, wider den Konflikt, für Harmonie, Konsens und Geborgenheit in der Welt.
Die Gewohnheit: Der Wohnraum ist strukturell unpolitisch. Seine Wahrheit ist nicht Resultat eines Kampfes sondern einer Setzung. Insofern die Installation dieses Raums die Vergewisserung zum Ziel hat, ist die Wahrheit fix, monolithisch und wenig flexibel. Er ist von seiner Struktur her kein Verhandlungsraum, sondern im Sinne Hannah Arendts „Ohnmachtsraum“ - Rückzugs- und Rekreationsraum für das Unbewusste und Reproduktionshalle identitärer Souveränität. Es wird wohl darauf geachtet, ihn rein zu halten, damit das Subjekt hier ungestört seine Verdrängungen einüben kann. Jedes Weltgeschehen, das hineingelassen wird, dient zu vordererst dazu, sich selbst der Welt gegenüber zu vergewissern. Das ist der Grund dafür, dass im Wohnzimmer „das Weltgeschehen verstreut wie ausgesogene Insektenleiber herumhängt“ - ähnlich einer Tot-Impfung immunisiert das Dokumentarische den Privatraum gegen das Öffentliche. Wirklichkeit verliert in diesem Raum jedwede Dynamik, erstarrt in einem Zustand des Altbekannten und Erwünschten.
Die Objektivität: Objektivität ist nicht nur dazu da, die beiden oben genannten Faktoren zu verstärken, um die Wahrheit und Glaubwürdigkeit der Wirklichkeitskonstruktion einzumauern. Sondern es ist sogar notwendig unter den beiden Bedingungen der Authentizität und Gewohnheit, die Botschaft „objektiv“ zu verpacken, will man nicht den Gewohnheitsraum stören oder riskieren, aus ihm ausgewiesen zu werden. Alle Anzeichen, dass es sich nur um eine von vielen möglichen Realitätsdarstellungen handeln könnte oder dass sie anders ist, als es die engen Möglichkeitsmargen erlauben, die dieser Gewohnheitsraum vorgibt, müssen vermieden werden. Objektivität als wissenschaftliches, journalistisches oder auch juristisches Gebot zur Untermauerung der Glaubwürdigkeit einer Wirklichkeitsbeschreibung wird hier zur reinen, doktrinären Attitüde eines mythischen Systems. War es ursprünglich ihre Funktion, einen Verhandlungsraum zu öffnen und den Diskurs fruchtbar zu machen, tritt sie hier an, um das Politische zu entschärfen und in letzter Konsequenz zu liquidieren. Jede filmische Wirklichkeitskonstruktion verkommt hier derart zu stereotypischen Image-Clustern.

Der entfesselte Dokumentarfilm

Wenn die Frage lautet, wie sich der Dokumentarfilm vom Fernsehen befreien kann, dann kann eine Antwort sein: indem er sich von dessen Doktrinen befreit! Und es ist augenscheinlich, dass die großen Dogmen des Dokumentarischen auf die Struktur des Fernsehens zurückzuführen sind und nicht auf den Dokumentarfilm im allgemeinen. Seitdem sich der Dokumentarfilm ihnen verschrieben hat, ist er konsequent aus dem Kinoraum verbannt. Mit Robert Flaherty und John Grierson angefangen über die Direct Cinema (etc.)-Bewegungen der 1960er Jahre bis heute hat sich die Dokumentarfilmbewegung von der Suche nach Wahrheit, für die die Kinoki-Bewegung eintrat, abgewandt und sich auf die (langweilige) Position der „Wirklichkeitsbeschreibung“ zurückgezogen, scheinbar bezaubert von den eigenen magischen Vermögen: Authentizität (im Verband mit Objektivität) wurde zum Selbstzweck, konfliktscheue Glaubwürdigkeit zum Schrei des Filmemachers nach Liebe.
All ihre Bemühungen fanden kaum mehr Anklang im Kino, das Fernsehen dagegen konnte ohne Mühe die Konzepte übernehmen. Und kaum kamen sie im Gewohnheitsraum an, waren sie pervertiert und ins Reaktionäre verkehrt. Vor allem das Direct Cinema hatte darunter zu leiden. Es ist kein Zufall, dass das Dokumentarische erst wieder Einlass in die Kinosäle fand, als es sich wieder traute, politisch und performativer zu sein – und Dziga Vertovs jubelndem Elan zu folgen: „Die Aufnahme eines Bankiers kann nur wahr sein, wenn wir im Stande sind, ihm die Maske zu entreißen, wenn wir hinter seiner Maske den Dieb erblicken können, ...um das Unsichtbare sichtbar zu machen, das Undurchsichtige durchsichtig, das Versteckte offensichtlich, das Verfälschte bloßgestellt... Der Heuchler, der Schmeichler, Bürokrat, der Spion, der Verblendete, der Gerüchteverbreiter, der Hintermann, etc. Sie ohne ihre Masken zu zeigen – was für eine schwierige Aufgabe, doch wie lohnend.“ (zitiert nach Issari/Paul1979: 25ff) Nur wenn man sich offen zur Wahrheitssuche bekennt, setzt man sich auch der Gefahr aus, auf legitime Widerstände zu stoßen. Aber erst so lässt sich diskursive Dynamik erzeugen – etwas, was Authentizität und Objektivität zu verhindern suchen. Daher muss sich jeder Dokumentarfilm gegen seine eigenen, strukturellen Kräfte bewusst zur Wehr setzen und offen legen, dass er nicht kann, was er doch scheinbar vermag: Wirklichkeit auf Knopfdruck herbeizuzaubern.
Es muss verstanden werden, dass der Kinoraum ein öffentlicher Raum und daher von gänzlich anderer Struktur als das Fernsehen ist. Er ist kein Raum für „ausgesogene Insektenleiber“. Er ist genuin ein politischer Raum, ein streitbarer, in dem die Wirklichkeit nicht präsentiert werden will, sondern entdeckt, erforscht, mit Zweifel überzogen, kritisiert und bekämpft. Nur in einem solchen Raum, der nicht die engen Konventionen und Formate des Fernsehens kennt, dessen Sehnsucht nach Konsens und Geborgenheit, kann der Dokumentarfilm seine emanzipative Energie wiedererlangen – in einem Raum, in dem Wirklichkeit nicht gleich Wirklichkeit ist, sondern Ergebnis von Zweifeln und Verhandlungen, in dem sie ausgefochten und erstritten, nicht enthüllt und wiedergegeben, sondern entziffert und interpretiert werden kann.

Ascan Breuer ist Filmwissenschaftler und lebt zur Zeit in Jakarta.

Literatur Walter Benjamin 1972: Über Haschisch – Novellistisches, Berichte, Material. Frankfurt/M. Walter Benjamin 1977: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit – Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt/M. M. Ali Issari, Doris A. Paul 1979: What is Cinéma Vérité? London

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