Der Verein Ketani

Vom Kampf um Anerkennung zur Kultur-, Bildungs- und Sozialarbeit von und für Sinti und Roma in Oberösterreich.

In der Geschichte vieler oberösterreichischer Gemeinden klafft ein markantes Loch. An dessen Stelle hatten sich über Jahrhunderte die Großfamilien der Sinti befunden, die einen Teil des Jahres auf Reisen waren und sich vor allem während der kalten Monate in verschiedenen Landgemeinden aufhielten. Nicht wenige Sinti-Kinder gingen – wie es noch Fotos aus den 1930er-Jahren zeigen – dort zur Schule, viele Sinti besaßen auch ihr Heimatrecht in diesen Gemeinden. Ihr „plötzliches Verschwinden“ in den Jahren 1940/41 gehörte zu den großen „Geheimnissen“, denen die Mehrheitsbevölkerung nach 1945 nicht näher nachging und die auch nicht Eingang fanden in Ortschroniken und Heimatbücher. „Der Hitler hatte sie geholt“, hieß es dann, worüber zwar nicht alle froh waren, aber auch niemand besondere Trauer oder gar Interesse an einer Aufklärung ihres Schicksals zeigte.

Dass diese Leerstellen in der regionalen und lokalen Erinnerung Oberösterreichs in den letzten zehn Jahren stark an Aufmerksamkeit gewannen, welche in zahlreiche Rechercheprojekte, Dokumentationen sowie verschiedene Formen eines dezentralen Gedenkens mündete, ist zum überwiegenden Teil auf die Initiative und Unterstützung eines Vereins zurückzuführen, der sich aus den Reihen der oberösterreichischen Sinti selbst entwickelte.

Entschädigungsfragen und die Gründung des Vereins Ketani

Am Beginn standen Ende der 1970er-Jahre die Bemühungen der Tochter einer von den Nationalsozialisten verfolgten Sintiza, Staatsbürgerschaft und Anerkennung als NS-Opfer für ihre Mutter zu erreichen. 1991 konnte schließlich ein Erfolg verzeichnet werden – Rosa Winter erhielt die Staatsbürgerschaft und eine Opferrente. Dieser Erfolg führte dazu, dass sich weitere Sinti und Roma an ihre Tochter Gitta Martl wandten, ob sie ihnen bei ihren Bemühungen um Anerkennung helfen könnte. Daraus entstand 1998 in Linz der Verein Ketani für Sinti und Roma. Seine Tätigkeit strahlte schon früh über die Grenzen des Bundeslandes aus.

1998 wurde auch die Erfassung der NS-Opfer aus den Reihen der Sinti in Oberösterreich begonnen. Bis dato fehlten eigene Bemühungen zur Dokumentation der Geschehnisse zwischen 1938 und 1945, sie wurden – wenn überhaupt – mündlich tradiert. Dies war vor allem dem sozialen Hintergrund der Sinti geschuldet und dem weit verbreiteten Analphabetismus. Dass vonseiten der Mehrheitsbevölkerung lange Zeit kein Interesse an diesem Thema vorhanden war, muss hier nicht eigens erwähnt werden.

Neue Aufgabenfelder in den 2000er-Jahren

Im Laufe der 2000er-Jahre verlor der Bereich der Beratung bei Entschädigungs- und Opferrentenfragen in der Vereinstätigkeit zunehmend an Bedeutung und stellt mittlerweile bei Weitem nicht mehr die Hauptaufgabe dar. Bereits früh hatten sich Tätigkeiten in der sozialen, kulturellen und Bildungsarbeit hinzugesellt, die auch in die Mehrheitsbevölkerung ausstrahlen sollten. Der Verein wurde bei Problemen in Schulen oder auf von Roma und Sinti frequentierten Campingplätzen aktiv, half bei Amtswegen, unterstützte Roma, die auf der Flucht aus dem Kosovo nach Österreich kamen, initiierte oder unterstützte Ausstellungen und Publikationen zur Verfolgung der Sinti und Roma und veranstaltete Feste, Bälle und Konzerte.

Selbst bei scheinbar so einfach zu realisierenden Dingen wie Stellplätzen für durchreisende Roma und Sinti konnte der Verein Ketani österreichweite Pionierarbeit leisten. In vielen Gemeinden waren und sind derartige Plätze aufgrund der Ablehnung durch Lokalpolitik und Bevölkerung nicht möglich. Durch die Vermittlung und durch beharrliche Bemühungen konnten in Braunau/Inn und Linz die beiden ersten Stellplätze für Roma und Sinti eingerichtet werden, die nach wie vor vom Verein begleitet werden.

Ein besonderes Anliegen ist dem Verein die schulische und außerschulische Bildung der Angehörigen der eigenen Gruppe. Sie sollen nicht zuletzt zu Bildungsabschlüssen animiert werden, und stolz vermerkt man MaturantInnen und erste AkademikerInnen aus der eigenen Gruppe, die vor 60 Jahren noch von fast 100 Prozent AnalphabetInnen geprägt war.

Aktuelle Veränderungen

Dass sich nicht wenige junge Sinti von der Volksgruppe bzw. ihrer stark ausgeprägten Kultur, dem Familienzusammenhang und den Gebräuchen entfernen, wird vermerkt, aber nicht als Katastrophe begriffen. So halten sich beispielsweise bei Gitta Martl, die die Geschäftsführung im Verein mittlerweile an ihre Tochter Nicole Sevik, eine studierte Juristin, abgab, Nostalgie und Romantik in Grenzen. Natürlich sei es gut, wenn die junge Generation Sprache und Kultur pflege, aber die jungen Sinti seien eben auch Kinder ihrer Zeit und genauso wie ihre AltersgenossInnen den verschiedenen sozioökonomischen Wandlungen und Entwicklungen der letzten Jahrzehnte unterworfen.

Aktuell stellt der Verein Ketani den einzigen Verein in Österreich dar, der sich ausdrücklich den Belangen der Sinti – aber nicht nur diesen – widmet. Außerdem ist er der einzige Verein von Sinti und Roma außerhalb Wiens und des Burgenlands. Der Verein Ketani trägt schon in seinem Namen den Willen zur Zusammenarbeit mit Roma wie auch der Mehrheitsgesellschaft – Ketani ist Romanes und bedeutet auf Deutsch gemeinsam. Dieser Name zeigt nicht zuletzt auch den Willen der Sinti zu einer Öffnung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft, der man – aus guten historischen Gründen – lange Zeit skeptisch gegenüberstand. Es bleibt abzuwarten, ob dieser Wille zum Aufeinander-Zugehen auch auf der „anderen Seite“ vorhanden ist und sich nicht nur in symbolischen Akten der Anerkennung und Aufarbeitung erschöpft.

Link

http://www.sinti-roma.at/

Literatur und Quellen

Winter, Rosa/Martl, Gitta/Martl, Nicole (2004): Uns hat es nicht geben sollen. Drei Generationen Sinti-Frauen erzählen. Hg. v. Ludwig Laher. Grünbach.

Müller, Christina Julia (2009): Roma und Sinti in Österreich – Die Anerkennung als Volksgruppe aus Sicht der FunktionärInnen der Minderheit (Diplomarbeit, Univ. Salzburg).

Schwanninger, Florian (2013): „Erinnern und Gedenken in Oberösterreich. Eine historische Skizze der Erinnerungskultur für die Opfer des Nationalsozialismus“. In: Mitteilungen des Oberösterreichischen Landesarchivs 23 (erscheint im Februar 2013).

Gespräch des Verfassers mit Gitta Martl, 19.11.2012

Florian Schwanninger

ist Historiker, im Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim tätig, beschäftigt sich u. a. mit der Erinnerungskultur an die Opfer des Nationalsozialismus in Oberösterreich und mit der Verfolgung der Sinti im „Gau Oberdonau“.

Ähnliche Artikel

Kulturstrategie Kulturentwicklungsplan Man muss sich schon einiges vornehmen, um etwas Großes zu schaffen. In der Politik gibt es dafür sogenannte Strategie- oder Entwicklungspläne. Wozu sind sie da? Wie laufen sie ab? Und wovon hängt es ab, ob sie Erfolg haben?
OKH, Offenes Kulturhaus Vöcklabruck Was kann die Kultur fürs Klima? Umweltschutz im Kunst- und Kulturbereich schien lange Zeit Nebensache und fehlt in den meisten Visionen und Missionstatements weitgehend. Dabei zeigen viele Initiativen und Projekte seit langem, wieviele spannende Impulse zu dem Thema aus dem Sektor kommen. Patrick Kwasi von der IG Kultur im Gespräch mit der Klimakultur. Hier mit Jolanda de Wit, OKH, Offenes Kulturhaus Vöklabruck.
Kulturland retten, Budget Kürzungen Schwarz-Blau Oberösterreich Der nun veröffentlichte Budgetentwurf der Landesregierung lässt die schlimmsten Befürchtungen der Kulturplattform OÖ wahr werden: Statt der geforderten Aufstockung der Mittel wird besonders die zeitgenössische Kunst und Kultur radikal gekürzt.