„Ich lebe wie diese Tiere, die Fledermäuse...

Simo ist 28 Jahre alt und lebt seit knapp zehn Jahren in Europa, wo er sich in verschiedenen Nationalstaaten, etwa in Italien, in Österreich und in der Schweiz, vergeblich um seine Legalisierung bemüht hat.

… nur in der Nacht“. Gespräch mit Simo.

Simo ist 28 Jahre alt und lebt seit knapp zehn Jahren in Europa, wo er sich in verschiedenen Nationalstaaten, etwa in Italien, in Österreich und in der Schweiz, vergeblich um seine Legalisierung bemüht hat. Simo spricht Darija und Arabisch sowie mehrere europäische Sprachen, unter anderem Italienisch und Französisch. Das Gespräch wurde auf Französisch aufgezeichnet und für die Zwecke dieser Publikation bearbeitet.

Kulturrisse: Kannst du mir zunächst erzählen, warum du Marokko verlassen wolltest und wie du dich schließlich auf den Weg gemacht hast?

Simo: In Marokko habe ich Fußball gespielt, und als unser Team zu einem Match nach Frankreich eingeladen wurde, war das für mich eine wunderbare Gelegenheit, da ich nicht in einer jener marokkanischen Städte gelebt habe, die an Spanien grenzen. Wenn man zum Beispiel Tanger hernimmt, dann ist das eine Stadt, die nur sieben Kilometer von Spanien entfernt liegt. Für die Leute, die in Tanger leben, ist es also etwas einfacher, das Land zu verlassen. Für mich aber war das ein bisschen schwieriger, da ich in einer Stadt gewohnt habe, die 50 Kilometer von Casablanca entfernt liegt. Als mir klar wurde, dass ich das Land verlassen wollte, wusste ich auch, dass ich nicht wenig Geld für die Reise brauchen würde. Die Sache mit dem Match in Bordeaux hat sich also gut getroffen, es war wie gesagt eine gute Gelegenheit. Ich bin so direkt nach Frankreich gekommen, und danach bin ich nach Italien weitergereist.

Deine Entscheidung, das Land zu verlassen, ist aber doch nicht vom Himmel gefallen?

Aber nein! Ich wollte seit Langem das Land verlassen. In Marokko habe ich keine Zukunft für mich gesehen. Ich habe Fußball gespielt und manchmal gearbeitet, aber ich habe keine Zukunft gesehen: Die meiste Zeit habe ich nichts gemacht, ich hatte nichts zu tun. Und selbst wenn du arbeitest, zum Beispiel als Fußballer, dann lebst du immer nur von der Hand in den Mund. Du denkst bloß an heute und morgen, aber du kannst an keine Zukunft denken oder sie auch nur sehen, denn in Marokko, in Afrika – da gibt es keine Zukunft. Du lebst von Tag zu Tag und verdienst gerade mal genug Geld, um dir Zigaretten und was zum Essen zu kaufen. Ich habe also mit meiner Familie gesprochen und ihnen erzählt, dass ich das Land verlassen will. Ihre Antwort war, dass ich Frankreich nicht kennen würde; und dann haben sie mir viel Glück gewünscht und gesagt, dass es mein eigenes Leben ist und dass ich ja kein Kind mehr bin.

Als ich schließlich (in Europa) angekommen bin, hätte ich mir nicht vorstellen können, die Art von Leben zu leben, die ich jetzt lebe. Ich dachte daran, weiterhin Sport zu machen. Ich wollte nach wie vor Fußball spielen, das war meine Idee, immer noch Fußball. Aber ich fand keine Gelegenheit dazu – wegen der Papiere. Ich stellte mir vor, dass ich ein Team finde, bei dem ich Fußball spielen kann. Noch 2010 spielte ich zum Beispiel mit einem Team in Salzburg, weil sie mich selbst mit der weißen Karte (1) akzeptiert haben, aber ich konnte nur am Training teilnehmen, nicht in den offiziellen Matchs. Ich durfte also nicht weitermachen, weil ich keine Dokumente hatte. Nur diese weiße Karte, die Asylkarte – siehst du: Diese Karte hat keinen Wert, du bist ein Nichts mit dieser Karte.

Du hast mir erzählt, dass du erst 2010 nach Österreich gekommen bist, nachdem du bereits etliche Jahre in Europa verbracht hattest. Hast du dich, während du in Italien warst, um Legalisierung bemüht?

Sicher, ich hab’ etwa versucht zu heiraten, aber niemals um Asyl angesucht. In Italien sucht niemand um Asyl an, weil man dort kein Asyl bekommt, wenn man aus Marokko bzw. aus Nordafrika ist. Ich habe acht Jahre in Italien verbracht, und das war vor allem eine Zeit des Leidens. Ich war dort im Gefängnis, zuerst ein Jahr und fünf Monate lang, dann noch einmal acht Monate lang – und so ging das danach weiter. Der Grund für meine Inhaftierung war die Arbeit, die ich zu machen begonnen habe. Das erste Mal im Gefängnis war schwierig, weil ich in Marokko niemals im Gefängnis war. Ich wusste nicht, wie das Gefängnis funktioniert. Aber das zweite Mal war ich schon erfahrener; ich wusste, was zu tun ist und wie ich den Problemen mit den anderen Insassen aus dem Weg gehen kann. Zudem sind im Gefängnis so ziemlich alle Nationen vertreten, und man muss also mit allen umgehen können. Man muss auch wissen, wie man sich den Wächtern gegenüber zu verhalten hat, die in aller Regel Rassisten sind, insbesondere gegenüber uns Nordafrikanern. Denn wir sind berühmt dafür, dass wir Drogen verkaufen, das sieht man ja jeden Tag im Fernsehen, und dann sind wir auch noch Muslime …

Mittlerweile beschäftige ich mich überhaupt nicht mehr mit Dokumenten und Papieren, und ich denke nicht mehr ans Geld. Ich bin’s einfach leid, ich hab’ genug davon. Ich will gar nichts mehr. Die Erfahrung, die ich hier in Europa gemacht habe, hat mich komplett verändert. In Marokko war ich eine andere Person, ich hatte Freunde, eine Familie. Jetzt lebe ich alleine und habe keine Familie. Ich kenne niemanden.

Verstehst du, wovon ich spreche? Wenn du dir zum Beispiel vorstellst, das Land zu verlassen und nach Marokko zu gehen, ohne Geld, ohne Dokumente, ohne Papiere, ohne irgendetwas dort zu kennen, ohne die Sprache zu kennen. Was wirst du dort tun? Ich bin mir hundertprozentig sicher, du wirst etwas tun; ich weiß nicht genau, was du tun wirst, aber du wirst zum Beispiel beginnen zu stehlen oder Drogen zu verchecken, damit du was zum Essen, zum Rauchen, zum Leben hast.

Was ich in Italien erlebt habe, ist vor allem Rassismus. Denn in Italien sind Leute aus Nordafrika ohne Papiere vor allem im Drogenbusiness tätig, klar doch. Also sind die Italiener_innen gegen die Nordafrikaner_innen, vielleicht nicht zu hundert Prozent, aber zumindest zu fünfzig Prozent. Du merkst es an den Gesten, die dir von den Leuten entgegengebracht werden, auf die du triffst. Als Marokkaner durfte ich zum Beispiel nicht in bestimmte Diskotheken rein. Am Anfang habe ich nicht recht verstanden warum. Ich verstand nicht, worin das Problem liegt. Ich hatte alles, was die anderen auch hatten, aber ich durfte in keine Disko rein.

Hast du nie daran gedacht, nach Marokko zurückzukehren?

Was sollte ich denn dort tun? Ich erzähle dir was über Mentalitäten: Für mich ist es mittlerweile schwierig geworden, nach Marokko zurückzukehren, und zwar vor allem aufgrund der marokkanischen Mentalität. In Marokko haben die Leute kein wirklich klares Bild von Europa, vom Leiden und den kriminellen Machenschaften, die es hier gibt. Sie glauben immer noch, Europa sei das Paradies. Ohne irgendetwas in der Tasche zurückzukehren ist für mich wirklich schwierig.

Die Leute haben keine klare Vorstellung von Europa, sie erzählen alles Mögliche. Sie glauben, dass in Europa alles möglich ist. Nach zehn Jahren in Europa verändert sich diese Perspektive allerdings. Und dann kommst du zurück, und die Leute sagen: „Schaut euch den an, der war zehn Jahre lang in Europa. Wo sind seine Papiere, wo ist sein Auto?“ Das ist die marokkanische Mentalität: Die Leute sehen Luxusautos, und sie wollen das gleiche haben oder sogar noch mehr …

Braucht dich deine Familie?

Es ist normal, dass man seine Familie unterstützt. Aber zurzeit, hier in Österreich, kann ich meiner Familie nicht helfen. Ich habe das getan, als ich in Italien und in der Schweiz war, klar, denn ich konnte dort immerhin ein bisschen Geld verdienen, wenn auch unter großen Risiken. Meine Familie glaubt, dass ich hier ein Leben habe. Wenn ich mit meiner Familie spreche, dann versteht mich niemand.

Aber zurzeit ist mein Leben wirklich sehr kompliziert, denn ich habe in Österreich meinen ersten Asylantrag gestellt. Wenn ich also in ein anderes Land gehen wollte, weil ich hier in Österreich keine Zukunft sehe, dann kann ich mir zu hundert Prozent sicher sein, dass ich nach Österreich abgeschoben werden würde, weil es das erste europäische Land ist, in dem mir die Fingerabdrücke abgenommen wurden. (2) Das ist nicht gut für mich. Wenn ich zum Beispiel nach Dänemark ginge, dann würde ich dort drei oder vier Monate verbringen, und dann schicken sie mich wieder nach Österreich.

Nach allem, was du hier erlebt hast, was erwartest du dir noch von Europa?

Derzeit wünsche ich mir nur noch, meine Familie zu sehen, nichts weiter. Ich will nichts für mich. Ich fühle mich tot und lebendig zugleich. Das einzige, was für mich zählt, sind meine Mutter, mein Vater und meine Brüder und Schwestern. Für mich selbst will ich nichts. Aber gleichzeitig weiß ich, dass ich nicht in das Land zurückkehren kann. Ich bin 28 Jahre alt, also kann ich inzwischen nicht mehr mit meinem Vater und meiner Mutter leben. Ich hätte gern ein Zuhause und ein anständiges Leben, und ich würde gern die Dinge tun können, die ich mag.

Und was magst du?

Ich will ein ruhiges Leben führen. Aber hier in Europa muss ich es noch immer suchen, dieses ruhige und schöne Leben. Derzeit lebe ich wie diese Tiere, die Fledermäuse. Wie Tiere, die nur in der Nacht leben. Wenn ich die Polizei sehe, muss ich mir ständig die eine oder andere List ausdenken, damit ich nicht mit ihnen reden muss und die Kontrollen umgehe. Sonst finde ich mich in Schubhaft wieder, im Gefängnis. Oder ich gehe wieder mal in ein anderes Land. Aber zurzeit denke ich nur an Österreich. Ich weiß nicht, was danach kommt. Für den Augenblick bin ich mehr oder weniger „legal“ in Österreich (3), und weiter weiß ich nicht. Wenn es Probleme gibt, werde ich das Land verlassen.

Meine Situation kann man so beschreiben: Ich lebe ein Scheißleben, ich entschuldige mich für den Ausdruck, aber im Moment ist das wirklich nur noch ein Leben in der Scheiße. Ich bin zurzeit „legal“ in Österreich, okay. Aber ich lebe auf der Straße, ich schlafe in der Kirche, und ich habe keine Ahnung, was die Zukunft bringt.

Wie bist du auf das Refugee Camp hier in Wien gestoßen?

Ein Freund, mit dem ich hier in Wien in einem Heim gelebt habe, hat mir erzählt, dass es da Leute gibt, die anderen helfen. Er hat mir nichts von den politischen Forderungen erzählt, er hat vor allem vom Ort geredet. Ich selbst mag Politik nicht besonders, ich bin einfach ein normaler Mensch. Aber er hat mir erzählt, dass da Leute sind, die Deutsch sprechen und die einem im Alltag helfen können. Und das ist wichtig für mich, denn ich habe ja schon Probleme dabei, eine Schachtel Zigaretten zu kaufen, weil ich die Sprache nicht spreche und mich mit Gesten durchschlage.

Würdest du sagen, dass dieser Ort, das Camp und die Bewegung rund um die Kirche, für dich etwas verändert hat?

Ja, das hat sehr viel verändert. Du weißt zum Beispiel, wo du schlafen kannst und wo du Leute finden kannst, die dir helfen, wenn du eine Dusche brauchst. Das ist schön. Es ist immer besser, den Ort wählen zu können, an dem man bleiben will. So lebe ich jedenfalls. Und wenn ich auf der Straße lebe, dann auch deshalb, weil ich diese Art von Scheißleben noch immer besser finde als das andere Scheißleben, das man in einem Flüchtlingszentrum hat.

Fußnoten

(1) Die „Asylkarte“ oder „weiße Karte“ belegt, dass man zum Asylverfahren, das heißt zur inhaltlichen Prüfung der vorgebrachten Asylgründe, zugelassen ist. Dem geht eine Prüfung der Zuständigkeiten (Dublin etc.) voraus: In dieser Zeit erhält man eine sogenannte „Verfahrenskarte“ („grüne Karte“). [Anm. d. Red.]

(2) Simo bezieht sich hier auf die Dublin-II-Verordnung, die festlegt, dass jenes EU-Land für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig ist, in das die Asylwerber_in zuerst eingereist ist. Die entsprechende Prüfung erfolgt auf Basis biometrischer Daten (Fingerabdrücke), die in der Europäischen Digitalen Datenbank (Eurodac) gespeichert werden.

(3) Simo hat 2012 einen Folgeantrag gestellt, nachdem ein erstes Asylansuchen abgewiesen worden war. Während der inhaltlichen Prüfung der im Folgeantrag vorzubringenden neuen Asylgründe besteht jedoch nicht mehr derselbe Abschiebeschutz wie beim Erstantrag. Das heißt, Simo könnte noch während des unabgeschlossenen Asylverfahrens abgeschoben werden.

Anmerkung

Ein Langfassung dieses Interviews erscheint im multilingualen Webjournal transversal: http://transversal.eipcp.net.

Birgit Mennel ist Übersetzerin und von Zeit zu Zeit politische Aktivistin, lebt in Wien.

Ähnliche Artikel

Regierungsprogramm, Kunst Kultur, Menschenrechte, Sozialpolitik, Frauenpolitik, Medienpolitik Das Regierungsprogramm hat 324 Seiten. Daraus ist für den Kulturbereich nicht nur das Kapitel Kunst und Kultur relevant, weil viele Entscheidungen aus anderen Ressorts in die Entwicklung des Sektors hineinspielt: Arbeits- und Sozialpolitik, Asyl- und Migrationspolitik, Menschenrechte, Frauenpolitik, Meinungs- und Pressefreiheit, die Entwicklung der Zivilgesellschaft und vieles mehr. Wir haben uns umgehört, wie verschiedene Bereiche, nämlich Kunst und Kultur, Soziales, Frauenpolitik, Migration und Asyl und freie Medien das Regierungsprogramm beurteilen und was sie erwarten. 
Stadtentwicklung, Kulturpolitik Was sind die Herausforderungen von Kulturentwicklung in urbanen Regionen? Hat die städtische Kulturpolitik überhaupt einen Plan oder reagiert sie nur und verwaltet. Gibt es eine Strategie? Gibt es Ziele? Wie soll das implementiert werden? Wie partizipativ sieht das ganze aus in der Kulturplanung? Und zu guter letzt, inwiefern spielt das Thema Migration und und das neue politische Klima dazu eine Rolle?</p <hr / Wir haben Player aus der Kulturpolitik, der
Die IG Kultur Österreich muss die Teilnahme am Projekt "Brokering Migrants Cultural Participation" , das in den Ländern Belgien, Spanien, Schweden und Italien durchgeführt wird, aufgrund von mangelnder nationaler Finanzierung absagen. Ausgewählte große Kultureinrichtungen können nun nicht auf ihre Durchlässigkeit für Personen mit Migrationshintergrund befragt, analysiert und ihnen eventuell nötige Verbesserung vorgeschlagen werden.