EGKS: Europäische Gemeinschaft für Kreativität und Selbstinitiative

„Die ganze Welt wird durch das Filter der Kreativindustrie geleitet“ – so könnte das Fazit ausfallen, betrachtete man die Kampagne „Du bist Deutschland!“ durch die Adornosche Brille: „Denn dort kann schließlich einer noch sein Glück machen, sofern er nur nicht allzu unverwandt auf seine Sache blickt, sondern mit sich reden lässt“ (Adorno/Horkheimer 1998: 134; 139f.).

Du bist Kultur
„Die ganze Welt wird durch das Filter der Kreativindustrie geleitet“ – so könnte das Fazit ausfallen, betrachtete man die Kampagne „Du bist Deutschland!“ durch die Adornosche Brille: „Denn dort kann schließlich einer noch sein Glück machen, sofern er nur nicht allzu unverwandt auf seine Sache blickt, sondern mit sich reden lässt“ (Adorno/Horkheimer 1998: 134; 139f.). Und wer mag sich einer solchen Anrufung, dem „Mythos des Erfolgs“, heute noch verschließen? In Zeiten massiver sozialer Einschnitte schlägt die im Herbst 2005 breit lancierte Aktion eine Schneise, in der sich allen voran die Kreativen als RetterInnen ihres in Not geratenen Landes aufspielen und den Tüchtigen freie Bahn zu gewähren versuchen. Die Botschaft der Fernsehspots und Anzeigen zu der Kampagne ist simpel: Schluss mit Jammern, jede/r Einzelne ist für das Vorwärtskommen des Landes und ihren/seinen eigenen Erfolg verantwortlich. Das „Du“ adressiert ein Individuum, das selbst bestimmt, eigenverantwortlich und frei zu handeln hat. Was dem/der BetrachterIn entgegenschallt, ist vordergründig betrachtet nur eine unter vielen Variationen des neoliberalen Imperativs dieser Tage. Es lohnt sich jedoch, den plumpen Versuch, Hurrapatriotismus verbreiten zu wollen, genauer zu betrachten, gerade wenn man die Rolle der so genannten „kreativen Industrie“ auf nationaler wie internationaler Ebene untersucht. Denn die Kampagne spiegelt so manche Idee wider, die auch auf EU-Ebene mehr und mehr kulturpolitisches Programm wird. Dort ist man zu der Einsicht gekommen, dass ein vereintes Europa mit Kreativität leichter zu erschaffen ist als mit Kohle und Stahl. Containerbegriffe wie „Kultur“, „Wissen“ und „Bildung“ gelten als Triebfedern für wirtschaftliches Wachstum. Sie, das ist jedenfalls die Hoffnung der policy-maker, beinhalten und erzeugen das, was Deutschland bzw. Europa für ihren Aufschwung brauchen – Kreativität und Innovation. Auf inhaltlicher, aber umso mehr auf formaler Ebene – etwa wenn sich Kamerateams in den Spots zur Kampagne immer wieder selbstreferentiell in Szene setzen – hallt das Echo des Europäischen Rates wider, der kreative Industrien „as those activities which have their origin in individual creativity, skill and talent and which have a potential for wealth and job creation through the generation and exploitation of the intellectual property“ definiert. Gleichzeitig soll die Wissens- und Kulturproduktion nicht bloß der Akkumulation von Kapital dienen, sondern über dies hinaus Identität stiften und gesellschaftliche Einheit schaffen: „Du bist Deutschland.“ Bezeichnenderweise entstammt dieser Appell keiner staatlichen, sondern einer privatwirtschaftlichen Initiative, die maßgeblich von Medienunternehmen gesteuert wird. Es spricht die Kulturindustrie. Die „kreative Klasse“ in Gestalt von Bertelsmann und Co. konstruiert ein Bild von sich selbst, das auch die europäische Politik von ihr zeichnet und proklamiert – nämlich Motor für gesellschaftlichen Wandel zu sein. So steht die Garde der Medienprominenz geschlossen, wenn mittels Kultur und Kreativität an den Bürgersinn appelliert wird. Fernsehspots wie Anzeigenmotive und -texte zeigen ein Land, das sich nicht länger mit den Vorzeigeunternehmen aus Zeiten des Wirtschaftswunders, sondern vorwiegend über seine Kulturindustrien identifiziert. Der Mythos des „Landes der Dichter und Denker“ wird dabei im Sinne der Gewinnmaximierung auf die Spitze getrieben: „[...] Du bist wahrscheinlich nicht Goethe – aber wäre es nicht interessant, herauszufinden, ob ein wenig von ihm in Dir steckt? Außer der Briefmarke und einen Umschlag kostet es nichts, genau das herauszufinden. Der Profit dagegen könnten Kinder sein, die Dich verfluchen, weil sie Deine Gedichte aufsagen müssen, und ein netter Geldregen [...].“

Der „Creative Shift“

An der Betonung von individuellen Talenten ist schnell zu erkennen, dass sich der Glaube an ein Genie, das losgelöst von seiner Umwelt Werke „kreiert“, noch lange nicht erschöpft hat. Innerhalb des dichten Metaphernnetzes, das sich in kulturpolitischen Diskursen um den Begriff „Kreativität“ spinnt, steht allerdings – anders als beim Genie des 18. und 19. Jahrhunderts – nicht länger das Moment der Expressivität im Vordergrund. Vielmehr wird Kreativität ausdrücklich als Modell der Produktion und als ökonomische Ressource definiert; oder, wie auch die UNESCO in einer Skizze zu ihrem Projekt „A Global Alliance for Cultural Diversity“ schreibt: „Creative industries have become the main vehicle by which countries express and export their creativity“. Solch ein Modell von Kreativität hat, wie Ulrich Bröckling im „Glossar der Gegenwart“ zeigt, mit den „Geniereligionen alteuropäischer Provenienz“ kaum etwas gemeinsam (Bröckling 2004: 141). Vielmehr wird Kreativität als ein Tool generiert, das am Markt dazu benutzt werden kann, einen Eindruck der Standardisierung abzuschwächen und immer neue Produktvariationen hervorzubringen, sei es für ein Produkt, sei es für einen Staat. „Je höher der Innovationsdruck, desto kürzer die Halbwertszeit des Neuen und desto größer der Verschleiß schöpferischer Potenziale“, schreibt Bröckling (Ibid.: 144). Dies passt ins Bild der in EU-Papieren oder in der „Du bist Deutschland“-Kampagne entworfenen „Führungsrolle“ der europäischen bzw. deutschen Creative Industries. Auf vielen Ebenen der politischen Rede lässt sich solch ein diskursiver „creative shift“ beobachten. Mit „Kultur“ und „Kreativität“ wird nun auch Wirtschafts-, Sozial-, Außen- und Sicherheitspolitik gestaltet; aber wie sieht es mit der Kulturpolitik selbst aus? In welchem Zusammenhang stehen Kampagnen von privatwirtschaftlichen Initiativen wie „Du bist Deutschland“ mit den kulturpolitischen Programmen der EU?

Die Kulturalisierung ökonomischer Programme

Im Jahr 2000 verpflichteten sich die Mitglieder der EU auf dem Regierungsgipfel in Lissabon, Europa bis zum Jahre 2010 zum „wettbewerbfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen – einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen“. Damit läuteten sie, zumindest diskursiv, einen radikalen Wandel für die europäische Ökonomie und auch für ihre zukünftige Wirtschaftspolitik ein. Europa müsse sich darauf konzentrieren, was es ohnehin schon immer am besten konnte: Konzepte und Images entwickeln oder, wie die britische Staatssekretärin für Kultur, Medien und Sport jüngst in einer Rede verkündete: „We need to concentrate our efforts on where our strength lie – in adding value through innovation and creativity.“ Europa möchte damit den sich rasant wachsenden Produktionsstandorten wie China oder Indien einen Entwicklungsschritt voraus bleiben, indem es seine ökonomische Kraft nicht mehr aus der Produktion von materiellen Gütern, sondern aus der Erfindung von Ideen bezieht. Das, so verheißt es die Erklärung von Lissabon, werde ohnehin „bessere“ Arbeitsplätze und einen „größeren sozialen Zusammenhalt“ schaffen. Eine diskursive Allianz von Kreativität, Kultur und Wissen mit wirtschaftspolitischen Themen findet in diesen Huldigungen der dynamischen wissensbasierten Informationsgesellschaft ihren Höhepunkt. Um die „Kulturalisierung“ einer Vielzahl politischer Ebenen zu verstehen, lohnt es sich, das vom Europäischen Rat veröffentlichte Credo zur Kultur zu betrachten, das ganz explizit fordert, Kulturpolitik von der Peripherie in das Zentrum des Regierungshandeln zu holen. Dabei wird bezeichnenderweise kein Kulturbegriff definiert, der weit reichende Förderprogramme wie Kultur 2000 rechtfertigen würde. Vielmehr wird „Kultur“ in diesem Papier als Agens konstruiert, von dem erwartet wird, dass es nicht nur die „essentielle“ Aufgabe, menschliches Wissen zu erweitern und Identität zu schaffen, erfüllt. Mehr als das: „it can help understand the many facets of sustainability, it can bring about new sense of solidarity, it can inspire positively the new economy, especially act as a means of empowerment and entitlement, it can promote public-private-links. […] it is an ingredient of society and policy which needs to be brought in from the margins, because for many decades it has not received the attention it deserves by policy-makers.“ Dieses Anforderungsprofil des Europäischen Rates, das doch sehr an zeitgenössische Stellenausschreibungen erinnert, personalisiert „Kultur“ in einem solchen Maß, dass KulturproduzentInnen selbst mit keinem Wort erwähnt werden. Zudem bleibt die Stelle eines Konzepts von Kultur als autonomes Feld der Produktion von kulturellen Artefakten in der metapherschweren Konzeption dieses Credos leer. Wenn Kultur an dieser Stelle in das Zentrum der politischen Aufmerksamkeit gerät, dann nicht um die „Kernaufgaben“ kulturpolitischen Handelns zu stärken. Ganz im Gegenteil, die Programme, die der Europäische Rat aus diesem Glaubenssatz entwickelt und so schöne Namen wie „Creating Cultural Capital“ tragen, dienen dazu, Kultur effektiv mit wirtschaftlichen und sozialen Kontexten zu verbinden.

Normative Zurückhaltung statt Manifest

Die Bedeutungszunahme von Kultur für eine Vielzahl von Politikbereichen führt keineswegs zu einer Stärkung der unmittelbaren EU-Kulturpolitik. Das EU-Programm Kultur 2007, das als eines der wichtigsten Förderinstrumente der zukünftigen EU-Kulturpolitik betrachtet werden darf, zeichnet sich vor allem durch seine normative Zurückhaltung aus. Wo das zurzeit noch laufende Programm Kultur 2000 noch einen deutlichen Manifestcharakter besitzt, fehlen politische Statements im Papier zu Kultur 2007 fast völlig. Mehr noch als bisher betont das Programm das Subsidiaritätsprinzip und nimmt die EU als starken transnationalen Akteur aus der Verantwortung. Das führt dazu, dass der Begriff „Kultur“ auf der einen Seite in immer größerem Maße zirkuliert, während auf der anderen Seite die strategischen Ziele und Schwerpunkte einer gemeinsamen „Europakulturpolitik“ weiter reduziert werden. Im Kultur 2007 Programm sind es derer nur noch drei statt acht: die grenzüberschreitende Mobilität von Menschen, die im Kultursektor arbeiten, die Unterstützung der internationalen Verbreitung von künstlerischen Werken und Erzeugnissen und die Unterstützung des interkulturellen Dialogs. Obwohl von Dialog, Mobilität und Verbreitung die Rede ist, wird doch eines deutlich: zwar wird die Reichweite des Kulturbegriffs größer, aber der Spielraum für eine wirklich transnationale Kulturpolitik geringer.

Fazit

Kultur ist zu einem Motor der „Produktion von Reichtümern“ geworden. Trotzdem sollte man sich nicht auf die romantische Verteidigung einer autonomen und „interessenlosen“ Kultur beschränken, sondern versuchen, ständig neu auszuhandeln, was Kultur in Zukunft in den unterschiedlichsten Kontexten sein und bewirken kann. Mit einer Definition von Kultur, die lediglich die Differenz zwischen industrieller und künstlerischer Arbeit absolut setzt, ist einer Lesart, die Kultur verstärkt in den Händen der Kreativindustrien zu verorten weiß, nichts entgegenzusetzen. Im Gegenteil: wie Boltanski und Chiapello in „Der neuen Geist des Kapitalismus“ gezeigt haben, waren es gerade solche „kritischen“ Impulse, die, als sie zeitlich verzögert vom Bildungs- und Beschäftigungssystem adaptiert wurden, eben jene Kampagnen angestoßen haben, in denen heute Phrasen zu Kreativität und Selbstinitiative gedroschen werden.

Literatur

Adorno, Theoder W./ Horkheimer, Max (1998): Dialektik der Aufklärung. Frankfurt /M.

Boltanski, Luc / Chiapello, Eve (1999): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz

Bröckling, Ulrich (2004): Kreativität, in: Bröckling, Ulrich; Krasmann, Susanne; Lemke, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart. Frankfurt / M., S. 139–144

Heike Ekea Gleibs, Studium der Kulturwissenschaften, lebt und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Hamburg.

Tim Schmalfeldt, ebenfalls Kulturwissenschaftler, arbeitet als Redakteur in Bonn, lebt lieber in Hamburg.

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