Die Transformation der kulturellen Produktion in in Ungarn nach 2010

Während die nationalistischen Ressentiments der nationalen Eliten einen wichtigen strukturellen Faktor in der Kulturpolitik der Fidesz darstellen, verläuft der Transformationsprozess sehr unstet und voller Widersprüche, da die Kader der Regierungspartei ideologisch und sozial keinen einheitlichen Block bilden.

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Kristóf Nagy & Márton Szarvas

 

Die Transformation der kulturellen Produktion in Ungarn nach 2010

Im Jahr 2010 begann eine langsame Transformation der ungarischen Kulturpolitik. Um das Land im Rahmen der arbeitsteiligen Struktur der EU – auf der einen Seite die hochtechnologisierten Länder des Westens und auf der anderen Seite die Länder im Osten und Süden, in welche die Güterproduktion kostengünstig ausgelagert wird – neu zu orientieren, begann die nationalkonservative Partei Fidesz damit, die kulturelle Produktion zu instrumentalisieren. Zum einen wurden die öffentlichen Mittel für profitorientierte Sparten im Bereich der Privatwirtschaft erhöht, etwa in den Bereichen Film und Design, während zum anderen öffentliche Kulturinstitutionen ihr Programm zunehmend im Sinne einer Stärkung der nationalen Identität ausrichteten, um damit – entsprechend der Ideologie von Fidesz – den neuen konservativen Staat zu legitimieren. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden zahlreiche Angestellte von den DirektorInnen abwärts durch loyale Kader ersetzt, die entweder der Regierungspartei oder der Ungarischen Akademie der Künste (MMA) zuzurechnen waren. Bei letzterer handelte es sich ursprünglich um eine private, konservative und der Fidesz nahestehende Organisation, die den Status einer öffentlichen Institution verliehen bekam. Gleichzeitig wurde das Budget der MMA massiv erhöht, während zahlreiche öffentliche Institutionen eingegliedert wurden. Trotz dieser Entwicklung spielen die von der Fidesz kontrollierten Kulturinstitutionen in Bezug auf Ideologie und Propaganda bis heute keine nennenswerte Rolle, vor allem im Vergleich zur Sozial- und Wohnbaupolitik der Fidesz, die deutlich größere Auswirkungen auf das Erstarken einer konservativen Mittelklasse hat. Im vorliegenden Text werden wir zeigen, dass die Aktivitäten der Orbán-Regierung im Kulturbereich weder zu einer barbarischen Zerstörung, noch zur Konstruktion einer neuen, loyalen Kulturströmung geführt haben. Die Kulturpolitik der Fidesz verfolgt vielmehr die Strategie, den Dissens im Kulturbereich zu verwalten. Für diese Entwicklung gibt es zwei Gründe: Einerseits bestehen innerhalb der Fidesz unterschiedliche, teils widersprüchliche Interessen, weshalb das Regierungslager bislang nicht in der Lage war, eine klare, einheitliche Kulturpolitik zu verfolgen; andererseits hat der Kunstbereich nur einen sehr eingeschränkten sozialen Einfluss und ist zudem eng in internationale Zusammenhänge eingebunden.

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Die Kulturpolitik der Fidesz verfolgt die Strategie, den Dissens im Kulturbereich zu verwalten.


Die aktuelle Kulturpolitik der ungarischen Regierungspartei weist zunehmend in eine ethnozentristische Richtung. Während die nationalistischen Ressentiments der nationalen Eliten einen wichtigen strukturellen Faktor in der Kulturpolitik der Fidesz darstellen, verläuft der Tansformationsprozess sehr unstet und voller Widersprüche, da die Kader der Regierungspartei ideologisch und sozial keinen einheitlichen Block bilden. So waren die Kulturbudgets seit 1990 darauf ausgerichtet, die Privatisierung der kulturellen Produktion zu fördern und folgten dabei der Politik des britischen „Art Council“ und dem US-amerikanischen „National Endowment of Arts“. Zugleich blieb aber in diesen 27 Jahren die weitgehende Abhängigkeit des Kulturbereichs von nationalen Mitteln bestehen, was auch mit der Abwesenheit lokaler InvestorInnen zusammenhängt. Bis 2010 hatte der staatlich finanzierte „Nemzeti Kulturális Alap“ (NKA, Nationaler Kulturfonds) weitgehende Entscheidungsfreiheit und ein – im Vergleich zu heute – deutlich höheres Budget zur Förderung lokaler Kunstproduktion. Der Bedeutungsverlust des NKA steht in direktem Zusammenhang mit dem Aufstieg der MMA zur am höchsten dotierten Kulturinstitution des Landes, die seither eine zentrale Rolle in der Umverteilung öffentlicher Kulturmittel spielt. Die Kritik an der MMA richtet sich meist direkt an den Staat und seine „irrationalen“ und „ideologischen“ Entscheidungen, die im Gegensatz zur Vorstellung von der Objektivität des Marktes stehen. Die Rolle der MMA sowie die Besetzung wichtiger Positionen im Museumsbetrieb mit konservativen Intellektuellen führte einerseits dazu, dass Geschmäcker und persönliche Vorlieben an Bedeutung gewannen, während andererseits bis heute ein Kulturnarrativ bedient wird, das auf konservativen Ästhetiken und Diskursen basiert: von der Bevorzugung von Sammlungen traditionellen ungarischen Kunsthandwerks bis hin zum Versuch, eine Kontinuität im Rahmen einer „tausend Jahre alten ungarischen Nation“ zu konstruieren. Der Aufbau einer Riege unterwürfiger Intellektueller, die vorwiegend ihre eigenen Interessen im Blick haben, schaffte aber auch Raum für neue Kooperationen zwischen privaten AkteurInnen wie Galerien oder Banken und den bedeutenden Kunstsammlungen. Ein Beispiel für diese Entwicklung ist das Liget Projekt, das den Budapester Stadtpark mit dem Bau mehrerer Museen revitalisieren möchte. Während sich die architektonischen Pläne an modernistischem Design orientieren, steht auf ideologischer Ebene die Idee von Wachstum und Fortschritt einer kreativen Stadt im Mittelpunkt dieses Projekts, das Kultur als wichtigen Faktor für die Stadtentwicklung begreift.

Die konservativ-nationalistische Ideologie von Fidesz steht allerdings nicht im Widerspruch zu einem marktorientierten Verständnis von Kultur, sondern beide Zugänge ergänzen einander. Im Jahr 2011 erhielt die private Galerie Forrás 100 Mio. Forint (ca. 320.000 Euro) für eine Präsentation ungarischer Kunst in Peking. Die eingeladenen KünstlerInnen waren weder bedeutend noch sonderlich bekannt und ihre Arbeiten nicht viel mehr als eine von Kitsch getragene Repräsentation von „ungarischem Glanz“. Eine ähnliche Vorgehensweise, allerdings unter anderen ideologischen Vorzeichen, lies sich bei „Bookmarks“ beobachten, einer repräsentativen Rundschau über die ungarische Neo-Avantgarde im Rahmen der Kunstmesse „Art Cologne“, die von drei kommerziellen Galerien (acb, Kisterem und Vintage) mit öffentlichen Geldern ausgerichtet wurde. Diese Beispiele zeigen, dass der Staat trotz drastischer Kürzungen der Kulturbudgets verschiedene AkteurInnen des Kunstmarkts direkt unterstützt, selbst wenn diese nicht den Geschmack der regierungsnahen Intellektuellen treffen.

 

Um die Kulturpolitik des Orbán-Regimes zu verstehen, sollte man sich darüber im Klaren sein, dass sich die konkurrierenden Interessen von regimetreuen Intellektuellen und anderen Gruppen am raschen Aufstieg und Fall diverser ProtagonistInnen und Institutionen zeigen. Das Regime braucht die Intellektuellen zur Legitimation ihres Systems, jedoch hat deren Autonomie – trotz gegenteiliger Bemühungen der Fidesz – in Ungarn immer noch einen hohen Stellenwert. Selbst Intellektuelle und KünstlerInnen aus dem engsten Kreis der Partei beharren regelmäßig auf eigenständigen Positionen und bereiten der Regierung damit regelmäßig Schwierigkeiten. Offensichtlich wurden diese Anfang 2017, als der liberale Tamás Jordán von der Fidesz-Mehrheit im Stadtrat nicht mehr als Direktor des Szombathely Theaters wiederbestellt wurde. Während sich Károly Eperjes – im Theaterbereich eine regierungsnahe Schlüsselfigur – aktiv an der Auseinandersetzung rund um das Szombathely Theater beteiligte und diese Entscheidung begrüßte, verteidigte Imre Kerényi – ein nicht minder einflussreicher Akteur aus dem selben Milieu – den künstlerischen Wert der Arbeit von Tamás Jordan. Solche vereinzelten, autonomen Positionen sowie gelegentliche Fälle von nicht verlängerten Verträgen zeigen deutlich, dass innerhalb der Fidesz die Kultur weder ein einheitlicher Bereich ist, noch einer, dem eine sonderlich große Bedeutung beigemessen wird.


Im Gegensatz zu den Konflikten zwischen den verschiedenen regierungsnahen Interessensgruppen folgen die Entwicklungen meist ohnehin anderen Mustern und haben dementsprechend unterschiedliche soziale Auswirkungen. Diese Unterschiede werden beim Vergleich zweier Institutionen sichtbar, die sich in den letzten Jahren etablieren konnten und die von loyalen Kadern kontrolliert werden: der Ungarische Nationale Filmfonds unter der Führung von Andy Vajna und die Ungarische Akademie der Künste, die von György Fekete geleitet wird. Der Filmfonds produziert sowohl Blockbuster für den lokalen Markt, als auch Arthouse-Filme, die auf Filmfestivals erfolgreich sind. Aufgrund ihrer „Fortschrittlichkeit“ erfreuen sich die Produktionen auch unter liberalen Intellektuellen in Ungarn einer hohen Akzeptanz. Im Gegensatz dazu verkörpert die Ungarische Akademie der Künste eine konservative, nationalistische Ästhetik, die von liberalen Intellektuellen weitgehend abgelehnt wird. Vergleicht man die beiden Institutionen miteinander, so wird klar, dass sich Formate aus dem Bereich der Popkultur wesentlich besser als bildende Kunst dazu eignen, einen breiten gesellschaftlichen Konsens zu erzeugen. Ein Beispiel dafür wäre etwa der aktuelle Blockbuster „Kincsem“, in dem einige populäre, liberale TheaterschauspielerInnen mit ungarischem Nationalstolz in Verbindung gebracht werden. Dabei wird deutlich, dass Regierungspolitik im Bereich der bildenden Kunst wesentlich weniger koordiniert ist und meist die Gestalt eines plumpen „Kulturkampfes“ annimmt. Um die Legitimität des Systems sicherzustellen, bevorzugt die Regierungspartei die Populärkultur, während die Hochkultur Raum für untereinander konkurrierende Interessensgruppen und interne Kritik bietet sowie die Herausbildung eines national-konservativen Geschmacks fördert. 

Im vergangenen Jahr hat sich trotz der allgemeinen Unzufriedenheit keine einzige unabhängige, außer-institutionelle Gruppe gebildet. Die in der internationalen Kunstszene gut integrierten AkteurInnen aus der Prä-Fidesz-Ära erhalten ihre Förderungen aus dem Ausland und orientieren ihre Arbeiten am Kunstmarkt, um ihre Unabhängigkeit zu gewährleisten. Im Bereich der Kunstausbildung spielen staatliche Förderungen eine besondere Rolle, denn sie tragen maßgeblich dazu bei, jene Menschen, die sich ansonsten nicht mit Fidesz identifizieren würden, nachhaltig in das System zu integrieren. Zudem ist die kulturelle Opposition streng hierarchisch geordnet: Während der Zugang der vormals liberalen Intelligenz zu externen Finanzierungsquellen diesen innerhalb der ungarischen Kulturszene eine dominante Position verschafft hat, bleibt jenen, die in der Hierarchie weiter unten stehen, kaum ein Spielraum, um abseits staatlicher Kulturinstitutionen tätig zu sein. Nur wenige Institutionen wie die KuratorInnengruppe der OFF-Biennále, das Netzwerk Tranzit.org, die Studio Gallery der Young Artists’ Association (FKSE) und eine Gruppe, die sich Free Artists nennt, vertreten eine unabhängige Kulturproduktion und stehen für künstlerischen Protest. Damit werden diese Gruppen zum Anziehungspunkt für junge Intellektuelle, die sich an der radikalen Kritik aktueller zeitgenössischer Strömungen orientieren, jedoch bleiben diese Versuche oft fragmentarisch und beschränken sich meist auf eine recht allgemein gehaltene Kritik am Staat.

 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Förderung eines neuen kulturellen Kanons in Kombination mit der Bildung einer national-konservativen Elite dazu geführt hat, dass letztere bestimmte Elemente der früheren, liberalen Elite übernommen hat. Die zunehmende staatliche Kontrolle hat einen inklusiven Charakter und steht nicht mit der Marktlogik in Konflikt, sondern fördert marktorientiertes Denken um damit potentielle Kritik zu neutralisieren, anstatt einen grundlegend neuen kulturellen Konsens zu etablieren.

 

Kristóf Nagy ist Kunsthistoriker und Sozialwissenschaftler und arbeitet im Rahmen eines Forschungsstipendiums für das Artpool Art Research Center. Er ist Mitglied der Arbeitsgruppe für öffentliche Soziologie „Helyzet“.

Márton Szarvas ist Doktoratsstudent für Soziologie und Kulturanthropologie an der Central European University und Mitglied der Arbeitsgruppe für öffentliche Soziologie „Helyzet“.

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