Bildpolitik ohne Opfer. Der Künstler und Historiker Ken Gonzales-Day und die Lynchmorde in Kalifornien

Von der Staatsgründung am 9. September 1850, als der „Goldene Staat“ zum 31. Bundesstaat der USA wurde, bis zur letzten bekannten Hinrichtung dieser Art 1935, wurden in Kalifornien 352 Menschen Opfer von Lynchmorden. Die meisten von ihnen waren Latinos, Mexikaner, Indigene oder gehörten der chinesischen Minderheit an, darunter insgesamt nur eine einzige Frau.

Kalifornische Eichen wachsen langsam und werden sehr alt. Sie sind auch Requisiten der Geschichte. Ob der Historiker und Fotograf Ken Gonzales-Day dennoch immer den richtigen Baum fotografierte, als er auf seiner Forschungsreise zwischen 2000 und 2005 durch Kalifornien fuhr, ließ sich nicht in allen Fällen herausfinden. Dass es allerdings zumeist Bäume und nicht Telefonmasten oder Brücken waren, an denen Angehörige ethnischer Minderheiten vom aufgebrachten Mob weißer US-AmerikanerInnen aufgehängt wurden, steht fest (vgl. Gonzales-Day 2006: 15). Und das gilt nicht nur für die 1500 bis 5000 gezählten Fälle, bei denen Schwarze in den US-amerikanischen Südstaaten zu Opfern des Rassismus wurden. „Strange Fruit“, sonderbare Frucht, hieß deshalb der weltbekannte Song, mit dem die afroamerikanische Sängerin Billie Holiday 1939 diese Lynchmorde klagend besang. Gonzales-Day aber dokumentiert eine andere, bislang nicht nur in Europa relativ unbekannte Geschichte: Die extralegalen Morde durch Erhängung in Kalifornien. Von der Staatsgründung am 9. September 1850, als der „Goldene Staat“ zum 31. Bundesstaat der USA wurde, bis zur letzten bekannten Hinrichtung dieser Art 1935, wurden in Kalifornien 352 Menschen Opfer von Lynchmorden. Die meisten von ihnen waren Latinos, Mexikaner, Indigene oder gehörten der chinesischen Minderheit an, darunter insgesamt nur eine einzige Frau.

Als Historiker hat Gonzales-Day nicht nur jeden einzelnen Fall recherchiert und aufgelistet. In seinem Buch „Lynching in the West“ stellt er sie zudem in den kulturgeschichtlichen Zusammenhang der Stiftung nationaler Identität. Lynching und andere Formen der von Gemeinschaften verübten Gewalttaten sind, so Gonzales-Day, zutiefst an die Formation der Nation gebunden. Von den Selbstjustiz übenden „Wachsamkeits-Komitees“ bis zur Antilynchung Bewegung waren Hunderttausende von Menschen direkt mit diesen Taten konfrontiert. Die Geschichte des Lynchens sei deshalb bis heute als ein Katalysator für das Denken über „Rasse“, Ethnizität und nationale Identität zu betrachten (vgl. ebd.: 6). Und als Künstler stellt sich Gonzales-Day die Frage einer angemessenen Repräsentation dieser Geschichte.

Das getilgte Lynchen
In der Generali Foundation Wien waren die Bilder Gonzales-Days Anfang des Jahres im Rahmen der Sammelausstellung „Exil des Imaginären. Politik Ästehtik Liebe“ (18.1. bis 29.4. 2007) zu sehen. Neben den eigenen Fotos von Bäumen in saftigen Landschaften stellt Gonzales-Day Pressefotos von Lynchmorden und Post- karten aus, auf denen die Täter unter einem Baum versammelt, ihren Mord mit Genugtuung betrachten oder gar feiern. Diese papiernen Träger für Grußbotschaften gab es zu Tausenden. Oft wird auf ihnen der Stolz der Mörder durch die hämischen Untertitel der Postkartenproduzenten noch unterstrichen: „Wild West Show“ wird eine dieser Szenen genannt, eine andere Bildunterschrift verkündet „Adios Amigos! Execution of Mexican Murderers“. Eine ganze Reihe solcher historischer Aufnahmen hat der Künstler gesammelt, vergrößert und zu einem Panorama der Verachtung nebeneinander gehängt. Die ausgestellten Werke allerdings weisen eine entscheidende Leerstelle auf: Auf allen Bildern, die Gonzales-Day zeigt, fehlt der Erhängte. Auf den retuschierten Fotos bleiben allein die Täter, sich um einen Baum versammelnd und merkwürdig ins Leere grinsend.

Werden die Opfer damit „abermals ausgelöscht“, wie Christa Benzer in ihrer Ausstellungsbesprechung in der Kunstzeitschrift Springerin (Heft 2/2007) schreibt? Wir das „nackte Leben“, von dem seit Giorgio Agamben (2002) so viel die Rede ist, das getötet werden darf, weil es aus dem Recht ausgeschlossen wird, hier ein weiteres Mal umgebracht, indem es wegretuschiert wird? Und wird den Anteilslosen, von denen Jacques Rancière spricht, noch einmal ihr Anteil verweigert, der Anteil am Bild nämlich (vgl. Rancière 2002: 50)?
Nein. Weniger die Subjekte werden ein zweites Mal ausgelöscht, als vielmehr das Lynchen: „Erased Lynching“, getilgtes Lynchen, sind deshalb auch die einzelnen Fotos von Gonzales-Day betitelt, dahinter in Klammern jeweils die Jahresangabe des Verbrechens. Die Auslassung ist vielleicht die einzige Möglichkeit, dem Opfer seine Subjektivität zurück zu geben oder sie posthum überhaupt zu ermöglichen. Indem der Gehängte nicht noch einmal zur Schau gestellt wird. Die Malträtierten nach dem lynchenden Mob, den EmpfängerInnen der Postkarten und den BetrachterInnen der Zeitungsfotos nicht ein drittes Mal den Augen der Schaulustigen und den schaulustigen Augen zu präsentieren, darum geht es Gonzales-Day. Sie wenigstens den Blicken der AusstellungsbesucherInnen zu entziehen.

Erst der visuelle Entzug der Ermordeten ermöglicht es, das Zusehen, die Zeugenschaft neu zu hinterfragen. Denn man fragt sich als BetrachterIn unweigerlich, was die Menge der Lächelnden da eigentlich tut. Und was man selber, indem man die retuschierten Bilder Gonzales-Days inspiziert, sehen will und was nicht. Und was bisher übersehen wurde. Die getilgte Geschichte der Opfer des organisierten Lynchens in Kalifornien wird ins kollektive Bewusstsein hineinreklamiert, gerade indem die Perspektive der Täter einer ihrer wichtigen Vervielfältigungsfunktionen beraubt wird, dem Zur-Schau-Stellen.

Der staunende Blick

Dieses Verfahren zur Erinnerung der Geschichte ist letztlich auch eine Reaktion auf die Geschichte des Verfahrens. Mit anderen Worten, Gonzales-Day zieht auch Schlüsse aus der Tradition der sozialdokumentarischen Fotografie. In den späten 1930er Jahren war von der US-Regierung unter Präsident Roosevelt die Farm Security Administration gegründet worden. In deren Auftrag wurden Fotografen wie Walker Evans (1903-1975) in den Süden geschickt, um dort die Armut der Landbevölkerung zu dokumentieren. Die unter dem Titel „Let us praise famous men“ publizierten Fotos von armen Farmerfamilien gehören zu den Klassikern der fotografischen Sozialkritik. Schwarze kommen in Evans´ Serie nicht vor. Und selbst der Zusammenhang von Armut und sozialen Klassen wird negiert, indem durch den Titel an das heroische Durchhaltevermögen „des Menschen“ appelliert wird.

In den 1970er Jahren war es Susan Sontag, die diesen Einsatz der Fotografie zur Dokumentation sozialen Unrechts scharf kritisierte. Sie bezeichnete die Idee, die „Fotografie als Instrument zur Dokumentation sozialer Probleme zu betrachten“, als „kennzeichnend für die im wesentlichen von der Mittelschicht vertretene – zwischen Fanatismus und Toleranz, Wißbegier und Indifferenz schwankende – Geisteshaltung, die man ,humanistisch‘ nennt.“ Für diese Mittelschicht hätten die „Elendsviertel ein ungemein reizvolles Dekor“ dargestellt (vgl. Sontag 2003: 58).[1] Auch der Fotograf und Fototheoretiker Allan Sekula kritisierte die „Berge von Indizien“, die die Dokumentarfotografie angehäuft habe. Durch „diese bildliche Präsentation von wissenschaftlichen und rechtsgültigen ,Tatsachen‘“, habe sie zugleich „viel zum Spektakel, zu visueller Stimulierung, Voyeurismus, Terror, Neid und Nostalgie beigetragen und nur wenig zum kritischen Verständnis der gesellschaftlichen Realität“ (Sekula 2000: 126).

Die Bilder von Gonzales-Day entgehen dem einen und tragen zum anderen bei: Sie entziehen dem Voyeurismus sein Objekt und stellen dadurch die Frage nach der gesellschaftlichen Realität, die das Objekt überhaupt erst zum Objekt hat werden lassen. Die historische Auslassung ethnischer Minderheiten als selbstbestimmte Subjekte in der Dokumentarfotografie und ihre systematische gesellschaftliche Unterdrückung wird hier im doppelten Wortsinne herausgestrichen: weggelassen und dadurch hervorgehoben. Betont wird damit, dass mit dem sozialen Ausschluss immer auch die Verunmöglichung einer „eigenen“, selbst gewählten Darstellungsform einhergeht. Und betont wird dabei auch, dass es immer ganz bestimmte Leute trifft. Auf „nacktes Leben“ reduziert zu werden, hat – und das kann mit Gonzales-Day auch gegen Agamben eingewandt werden – noch nie alle gleichermaßen bedroht. Zum Opfer eines Lynchmords zu werden hieß immer, aufgrund der zugeschriebenen Zugehörigkeit zu einer Gruppe der „Selbstjustiz“ einer anderen, der dominanten Gruppe ausgeliefert zu sein.

Der „staunende Blick“ („wonder gaze“), mit dem eine kalifornische Zeitung 1854 die Faszination der Menge bei der Hängung eines Mexikaners beschrieb, traf nie nur das Opfer selbst (vgl. Gonzales-Day 2006: 182). Er beeinflusst „Familien, Gemeinschaften und Individuen für Generationen“ (ebd.: 203). Die gelynchten waren aus der Sicht ihrer Mörder immer auch Exemplare einer Gruppe, deren vermeintliche (verbrecherische) Eigenschaften sie verkörperten.

Auf eine solche Existenzweise festgeschrieben, erweist sich der Kampf um Sichtbarkeit, den kulturelle Minderheiten so ausgiebig geführt haben, als zumindest ambivalent. Denn dem nackten Leben, „dem gegenüber alle Menschen als Souveräne handeln“ (Agamben 2002: 94), also über dessen Leben und Tod sie entscheiden, bietet die Unsichtbarkeit zuweilen sogar Schutz. Schutz vor der Mehrheit – hier dem weißen US-Bürgertum –, die sich dank der Zurschaustellung der anderen der eigenen Rechtschaffenheit vergewissern konnte.

Deshalb stellt Gonzales-Day das Lynchen auch in den Kontext der Nationsbildung. Als Gemeinschaft stiftende Handlung stand es auch zur staatlich verhängten Todesstrafe nicht im Gegensatz. Diese war bloß eine Form der Modernisierung des Lynchens als dessen zivilisierte Alternative sie dargestellt werden konnte. An diese „zivilisierte“ Tradition knüpft auch der kalifornische Gouverneur Arnold Schwarzenegger an, als er Mitte Mai 2007 die richterlich verfügte Aussetzung der Vollstreckung der Todesstrafe attackiert. Als Reaktion auf mangelhafte Giftspritzen, die zu der Tötungspause geführt hatten, schlägt Schwarzenegger in einem 100-Seiten-Papier Verbesserungen bei der Hinrichtung vor, wie u. a. Trainingskurse für das Team der Henker.2 Mit gegenwärtig rund 650 Häftlingen sitzen in Kalifornien mehr Häftlinge im Todestrakt als in jedem anderen Staat. Dass auch für diese zum Tode Verurteilten die ethnische Zugehörigkeit ein ausschlaggebendes Kriterium ist, hat zuletzt die so genannte „Radelet-Pierce Studie“ ausführlich belegt. Demnach ist die Wahrscheinlichkeit, wegen eines Mordes an einem/einer Weißen zum Tode verurteilt zu werden, drei Mal so hoch wie die, wegen eines Mordes an einem/einer Schwarzen und vier Mal so hoch wie die Wahrscheinlichkeit, wegen eines Mordes an einem Latino/einer Latina in die Todeszelle zu kommen. Und obwohl die Wahrscheinlichkeit, in Kalifornien ermordet zu werden, für Schwarze sechs Mal so hoch ist wie für Weiße, sind 80 Prozent der verhängten Todesstrafen wegen Morden an Weißen ausgesprochen worden.3

Die „Verbrecher“ als Gruppe auszumachen und sie dann exemplarisch loszuwerden, hat immer auch die Funktion, die eigene Anwesenheit sowie die eigene Tadellosigkeit der herrschenden Gemeinschaft zu legitimieren. Die Fortsetzung dieser Selbstvergewisserung verweigert Gonzales-Day den BetrachterInnen seiner Bilder. Er führt die Zurschaustellung der Opfer nicht fort und stellt damit den Status der Gehängten ebenso in Frage wie den des Lynchmobs. Was er aber nicht unsichtbar macht, ist einer der entscheidenden Punkte, an denen sich kollektive Darstellungen und dargestellte Kollektive in konkrete Handlungen umsetzen. Ob Gonzales-Day letztlich also bei seiner Recherche immer den richtigen Baum erwischt hat, ist völlig unerheblich. Denn den entscheidenden Zusammenhang, in dem sich Darstellung und die Vorstellung von ethnischen Minderheiten getroffen haben, hat er alle mal gefunden: Die kalifornischen Eichen sind der Repräsentationskontext, aus dem die Opfer gelöst werden müssen, um nicht mehr Opfer sein zu müssen.

(1) Am Beispiel Walker Evans´ stellt Michael Leicht in einer faszinierenden Fallstudie dar, wie die Herrichtung eines solchen Dekors im Detail vor sich ging, wie Evans also seine Fotos inszeniert und die Abgebildeten von jedem Profit daran, symbolischem wie materiellem, abschnitt (vgl. Leicht 2006).

Literatur
Gonzales-Day, Ken (2006): Lynching in the West. 1850-1935, Durham und London (Duke University Press)

Agamben, Giorgio (2002): Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. (Suhrkamp Verlag)

Rancière, Jacques (2002): Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a. M. (Suhrkamp Verlag)

Sontag, Susan (2003 [1978]): „Objekte der Melancholie“. In: dies.: Über Fotografie, Frankfurt a. M. (Fischer Verlag), S.53-83

Leicht, Michael (2006): Warum Katie Tingle sich weigerte, ordentlich zu posieren und Walker Evans darüber nicht grollte. Eine kritische Bildbetrachtung sozialdokumentarischer Fotografie, Bielefeld (transcript Verlag)

Sekula, Allan (2000 [1978]): „Den Modernismus demontieren, das Dokumentarische neu erfinden. Bemerkungen zur Politik der Repräsentation“. In: Burgin, Victor/Peter Wollen/Rosalind Krauss u. a. (Hg.): Theorie der Fotografie IV. 1980-1995. Eine Anthologie, hg. v. Hubertus von Ameluxen, München (Schirmer/Mosel), S. 120-129

(2) Vgl. www.nodeathpenalty.net/ ?p=20 (16.05.2007).

(3) Vgl. aclunc.org/issues/criminal_justice/death_penalty/asset_upload_file101_3046.pdf (18.05.2007).

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